Tante Anneliese ist tot

Ich sehe sie noch vor mir. Tracht, schelmisches Gesicht. Strickend, häkelnd.


Sie ist über 90 Jahre alt geworden. War zum Schluss sehr sehr krank. Schlaganfall. Seestörung, nahezu blind. Ob sie einen hörte, weiß man nicht. Sprechstörungen.

Ich habe sie in diesem Zustand nicht gesehen. Das bedauere ich. Nicht weil ich sensationshungrig wäre auf den Zustand von Demenz und Siechtum. Sondern, weil ich nicht bei ihr war. Viel zu wenig folgt man dem eigenen Gefühl. Ersetzt es durch Pflichtgefühl und Rücksichtnahme. Alles Äußerlichkeiten.


Für uns Kinder war sie immer Tante Anneliese. So lernte ich sie kennen. Eine Frau, die peinlich darauf achtete, dass sie die Insignien einer Diakonisse immer perfekt trug. Uns Kindern war das gleich.


Tante Anneliese war immer fröhlich. Und uns Kindern von Herzen zu getan. Von ihr kam keine Bosheit. Kein hartes Wort. Wohl aber viel Feedback. Sie war im Gespräch. Sie war ein Gegenüber. Mit ihr wurde einem die Zeit nicht lang.


Tante Anneliese war sehr diesseitig. Man konnte über alles mit ihr reden. Sie schlug kein Thema aus. Sie war erwachsen. In ihrem Mutterhaus war sie so gut wie nicht, solange sie eine Arbeit als Krankenschwester in einem Bochumer Krankenhaus versah. Dort wurde sie schnell Stationsschwester. Also eine Autoritätsperson. Mein Respekt ihr gegenüber wuchs.


Sie war stolz auf ihre Arbeit. Und sie erzählte viel davon. Von Krankheiten, vom Oberarzt, von Patienten. Ihr Ton war dort wohl ähnlich, wie bei uns. Schwer zu beschreiben.

Sowohl respektvoll, anerkennend. Aber auch selbstbewusst, ironisch. Die Mischung habe ich kaum einmal wiedergefunden. Ich kenne keinen Menschen, zu dem sie keinen Zugang gefunden hat, und der wiederum keinen Zugang zu ihr gefunden hat, wenn er es denn wollte.


Tante Anneliese war eine Verwandte. Sie kam von der Pieper – Linie, das ist die Linie meiner Oma, der Mutter meiner Mutter. Meine Mutter und sie, das waren wohl Cousinen. Mit Tante Anneliese spürten wir eine Brücke über Generationen, die beiden Teile Deutschlands und zum Ruhrgebiet.


Tante Anneliese hatte im Krieg als Funkerin gearbeitet. Wie das kam, hat sich mir so richtig nie erschlossen. Zwangsverpflichtet sei sie als junges Mädchen geworden. Ausgebildet in Prora, hat sie ihren Dienst im Pendlerblock oben versehen. Sie muss Dönitz unterstellt gewesen sein. Von dieser Arbeit erzählte sie mit zunehmenden Alter immer mehr. Nicht ohne Anteilnahme, manchmal Vergnügen. Aber auch Erschütterung.


Inwiefern die Kriegserfahrungen ihr den Dienst als Diakonisse und Krankenschwester befördert haben, kann ich nicht sagen. Kann man vermuten.


Ich habe immer bedauert, dass sie keine eigenen Kinder haben konnte. Das war ihr als Diakonisse versagt.


Warum ist sie Diakonisse geworden? Krankenschwester hätte sie auch so werden können. Das hat sie verneint. Nein zu ihrer Zeit sei das nicht möglich gewesen. Mh, glaube ich nicht so richtig.


Bei ihrer Beerdigung staunte ich über den Abschnitt auf dem Velberter Friedhof, wo die toten Diakonissen des Mutterhauses begraben werden. Genauso trist und unpersönlich wie auf einem Soldatenfriedhof sieht es dort aus. Jede Schwester hat eine Steinplatte von 40 mal 40 cm. Diakonisse Schwester und die Namen und Daten steht dort drauf. Ansonsten nur Wiese, keine Blumen. So unpersönlich war Anneliese nie, aber auch ihre Freundin, Schwester Gerda nie.


Anneliese war wohl Diakonisse, und das offenbar mit ihrer ganzen Persönlichkeit, aber vor allem ihrem Pflichtgefühlt, das äußerst selbstverständlich daher kam; aber sie war es auch wieder nicht. Uns gegenüber war sie immer die Tante, die Freundind.


Im Mutterhaus kursierte ein Nachruf. Danach hätte sie zwei Gotteserscheinungen gehabt. Eine als Konfirmandin, also mit 14. Eine nach der Ausbildung. Die hätten sie in Richtung Mutterhaus geführt. Ob das so stimmt? Oder nur eine Legende ist, besonders fürs Mutterhaus? Dann wäre das extrem scheinheilig.


Am großartigen Leben von Tante Anneliese ändert das nichts. An meiner Erinnerung an sie auch nichts. Doch ist kein Mensch ohne seine Widersprüche.

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