Wachet und Betet

Mein erstes und einziges religiöses Erlebnis dieser Art widerfuhr mir eines Abends in meiner zu Ende gehenden Lehrzeit Mitte der 70-ger Jahre, als ich in meinem Betrieb „VEB Berlin-Chemie“ in der Tablettierung einen Arbeitseinsatz zu leisten hatte und mir mein ganzes Unglück, das zu empfinden ich in der Lage war, bewusst wurde.

 

„… aber sprich nur ein einziges Wort, so wird meine Seele gesund.“ Dieser Satz aus, in meiner Erinnerung seinem alltäglichen Gebrauch in katholischen Gottesdiensten brachte mir Frieden. Ich saß auf einer Außentreppe dieser veralteten Industrieanlage, ganz allein, den Tränen nah, und doch zur inneren Ruhe kommend. An meiner Situation hatte sich nichts geändert, und doch viel.

 

Wir haben gebetet wegen der Waffen auf beiden Seiten des kalten Krieges, wir haben Fürbittandachten gehalten für die Inhaftierten der Rosa-Luxemburg-Demonstration Anfang 1988, und gemeinsam Wache gehalten mit den Hungerstreikenden damals und in den beginnenden Herbsttagen 1989. Eine eigentümliche Unruhe begleitete diese Mahnwachen. Mir war bewusst, dass Gebete das eigene politische Handeln nicht ersetzen können. In den Nachtstunden der gemeinsamen Wache in der Gethsemane-Kirche fand ich keinen Frieden. Der Hungerstreik war eine aufopferungsvolle Tat gleichgesinnter und solidarischer junger Menschen meiner Generation, die für die Inhaftierten aber auch uns, die nicht Inhaftierten ein Zeichen des Widerstands und der Hoffnung setzen wollten. Ob man damit inneren Frieden erreichen konnte, das weiß ich nicht. Mein Weg war ein anderer. Ich verstand sie gut, die Hungerstreikenden, aber ich wollte mehr.

 

Ich weiß, dass Gott, so wie wir ihn uns vorstellen, uns auch das Werkzeug des Verstandes gegeben hat, den anzuwenden etwas anderes ist. So gesehen, sind auch die Aufklärung, die Möglichkeit des bewussten politischen Handelns Bausteine seiner Schöpfung, und sich damit eins wissen, bedeutet nicht, sich von Gott zu entfernen. Aber er ist in den Hintergrund geraten.

 

Wo ist Gott heute? Mit Sicherheit bei den Alleinreisenden jugendlichen Flüchtlingen, die und deren Eltern Todesängste ausstehen. Er ist aber auch bei den Soldaten der Bundeswehr, wenn sie um ihr Leben fürchten, und die doch Frieden bringen sollen. Er ist bei den Menschen, die wegen der Globalisierung um unsere Freiheit und Demokratie fürchten, und für die TTIP ein Verbrechen ist. Und natürlich ist Gott bei den Kindern, deren Eltern sich scheiden lassen, bei den Ehepaaren im Rosenkrieg, bei den Opfern von Mobbing und Stalking, bei den Gestreßten und Kranken, und bei jenen, die ihr Leben als langweilig und trist empfinden. Wir können uns glücklich schätzen im Frieden zu leben, und doch gehört die Not zu unserem Alltag. Gott ist bei ihnen allen; aber er ist wohl auch allen anderen, die ein glückliches und zufriedenes Leben führen können, nicht fern. Der Gott, über den wir hier reden, ist kein anderer als der, der uns aus der DDR herausgeführt hat.

 

Den Plan, den Gott mit uns hat, kennen wir nicht; wir wissen nicht einmal ob er einen hat. Er hat unser Leben in unsere eigenen Hände gelegt. Es bleibt dabei, wir können ihn anrufen, wenn wir in Not sind, aber auch wenn wir glücklich sind. Gebete ersetzen unsere bewussten Lebensentscheidungen nicht, aber in gewissen Sinne ermöglichen sie sie überhaupt erst.

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