Mein Freund Gutzeit (2)

Dieser, der vorherige und die in den nächsten Tagen folgenden Texte sind eine Vorschrift auf einen Text, der anläßlich Gutzeits 65. Geburtstag erscheinen soll. 

Einer der Sätze, die von Gutzeit häufig zu hören waren, lautete: „Wer Demokratie will, muss sie  praktizieren!“. Das war das unser Organisationsprinzip. Auf diese Weise organisierte sich die SDP in der Fläche. Und das erklärte auch, weshalb ich zum ersten Sprecher gewählt werden konnte, warum von den Gründern keine Personalvorgaben  gemacht wurden, keine Vorentscheidungen getroffen wurden, und warum Gutzeit so ruhig blieb, als er anfangs nicht mal in den geschäftsführenden Ausschuss gewählt wurde.  Es gab keine Einmischung in Personalfragen. Die Gruppen, Ortsvereine, Kreis- bzw. Bezirksverbände wählten ihre Vorstände selbständig ohne Einmischung von uns. Wir waren keine Kaderpartei, wie die verhasste SED. Wir hatten Vertrauen, und die Verbände hatten die Verantwortung. Dieses Nichteinmischungsprinzip sprach unseren Mitgliedern die Freiheit und die Fähigkeit zu, für ihre eigene Zukunft selbst sorgen zu können. Und da wo sie scheiterten, sich selbst korrigieren zu können. Manch einer, insbesondere von der West-SPD verwunderte dieses Prinzip, aber es war kein Zeichen von Schwäche, auch nicht aus der Not geboren, sondern ein ganz bewusster, logischer Schritt aus unserem Selbstverständnis heraus. Und es war erfolgreich. Nur so konnte sich Leipzig organisieren, die mit ihren SDP – Strukturen die Grundlagen für eine lange erfolgreiche SPD-Arbeit legen konnten, deren Wahlerfolge fast 20 Jahre lang die der anderen sächsischen Regionen überstrahlten. Denn dort waren Leute am Werk, die das politische Organisationsangebot der SDP für sich zu nutzen verstanden. Und nur so konnte der Berliner Bezirksverband sich noch vor dem Mauerfall am 9.November konstatieren. Wir haben niemanden zum Rapport bestellt, wir haben nie eine Weisung erteilt. Wir haben aber den Regionen die Möglichkeit gegeben, an unseren Sitzungen teilzunehmen. Wir haben sie ernst genommen und  den notwendigen Handlungsspielraum gegeben. Die SPD heute insbesondere in Ostdeutschland ist weit von dieser damals von uns praktizierten Freiheit entfernt. Gerade mit den Einmischungen in inhaltlichen, organisatorischen und Personalfragen werden verschiedentlich die Territorialverbände entmündigt, was die handelnden Akteure vor den Kopf stößt, und niemand mehr Lust und Energie hat sich da einzubringen. Was Demokratie in praxi bedeutet: Freiheit und Vertrauen, das habe ich von Gutzeit gelernt.

 

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Wir haben viel gelacht in diesen Wochen und Monaten. Gutzeit und ich trafen uns zeitweise täglich. Es war immer Ernst, und es war immer lustig. Dabei ging es nicht um Schadenfreude, oder um sarkastisches Auslachen. Es war die Freude, die einen erfasst, wenn man zu unerwarteten Erkenntnissen kommt, wenn man plötzlich Lösungen sieht oder wenn man plötzlich etwas auf den Punkt bringen kann. Es war eine Freude, die etwas mit Verstehen zu tun hat. Dieses Lachen hat die im Grunde harte Arbeit der damaligen Zeit zu einem reinen Vergnügen gemacht. Es war kein teuflisches Lachen, auch wenn sein Dröhnen durch die Mauerwände drang, es war ein Lachen aus dem Spaß am Reflektieren, des Schlussfolgerns, des eigenen Denkens geboren. Es hatte auch etwas protestantisches an sich. Denn Protestanten lachen viel. Und wir waren Protestanten. Aber hier ging es um Politik. Und unsere Werte flossen in die Politik mit ein. Und doch war das keine protestantische Revolution die wir hier betrieben, sondern eine demokratische. Wir haben nicht aus Genugtuung heraus gelacht. Als sich die Mauer zum Beispiel öffnete, in den frühen Nachtstunden des 9. November, da saßen Gutzeit und ich gerade in einer Kneipe mit dem späteren Innensenator von Berlin Erhard Körting zusammen, und stießen darauf an, da haben wir nicht gelacht, sondern „nur“ gefreut. Gelacht haben wir, wenn die List der Vernunft mal wieder jemanden ein Schnippchen schlug. Als wir Modrow mit einem kleinen Interview austricksen konnten, der gerade vorhatte, sich per Plebiszit zusätzlich Autorität zu verschaffen, da haben wir gelacht. Als wir Stolpe als Spitzenkandidaten für die Volkskammerwahl ausgeschaltet hatten, da haben wir auch gelacht. Das Lachen hatte auch etwas Entspannendes. Als aber die West-SPD uns zum Partner machte, da hat Gutzeit nicht gelacht, sondern nur gesagt: „Die hatten keine Wahl“. Dieses keine Wahl haben, war eine Folge des Gutzeit‘schen Reflektionsvermögens. Er hatte die Schritte immer schon voraus gedacht. Als ihn mal jemand in meinem Beisein frug, wie viele Schritte man vorausdenken muss, da antwortete er nach kurzem Zögern: „Immer einen mehr“. Und dann lachte er wieder sein dröhnendes Lachen. Denn mit diesem, Immer einen mehr, hatte er mindestens zwei Vorstöße gleichzeitig gekontert. Als ob man das Vorausdenken zählen könnte, was für ein Unsinn! Und zum anderen lautete die Botschaft: Du erwischst mich nicht. Es war ein Bonmot. Gutzeit arbeitet viel mit Bonmots. Davon können auch andere viel erzählen.

 

Gerne erzählte er die Geschichte, wie ein vermeintlicher Spitzel zu DDR Zeiten ihn mal frug, was man denn machen können, um die DDR weiter schwächen zu können, und er ihm einfach geantwortet hatte: „Gar nichts. Die (damit war die SED gemeint) müssen einfach weitermachen, nur weitermachen.“ Denn sie schaufeln sich ihr eigenes Grab. Einigermaßen bedreppelt blieb der Spitzel stehen. Gutzeit machten solche Sprüche Freude, intellektuelle Freude. Man spürte förmlich die Macht, die er in solchen Momenten sichtbar in der Hand hatte. Er brauchte keinen Machtanspruch. Er hatte Macht, Macht durch Wissen, durch Vorausdenken, durch Selbstbewusstsein und durch Handlungsfähigkeit. Davon konnten andere nur träumen.  

 

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Doch Gutzeit konnte auch sehr ernst sein, und wenn es sein muss hart, und jegliche Geschäftsordnung beiseiteschieben, wenn es ihm Ernst war. Er hat die demokratischen Regeln nicht angebetet. Als die Ost-SPD in den Tagen nach der Delegiertenkonferenz ein Listenbündnis mit den übrigen Oppositionsparteien eingehen wollte, und das ohne sein Beisein bereits beschlossen hatte, wurde er wütend. Er kam erst spät dazu. Es muss schon 10 oder 11 Uhr abends gewesen sein. Und er wurde so wütend, dass er die ganze Tagesordnung umwarf, und die Vorstandsmitglieder frug, ob sie alles erreichte über den Haufen werfen wollten, ob sie die Einheit der Ost-SPD aufs Spiel setzen wollten, ob sie wirklich bereit waren, den anderen, unbedeutend gewordenen Oppositionsgruppen auf unsere Kosten zu Macht und Einfluss zu verhelfen, und ob sie die ganze Zusammenarbeit mit der West-SPD aufs Spiel setzen wollten, ja zum Schluß ob sie für die SED-PDS Wahlkampfhilfe leisten wollten. So dämmerte den Vorstandsmitgliedern, auf welch ein Spiel sie sich hier eingelassen hatten. Und so warfen sie ihre eigenen Beschlüsse wieder um. Ich selbst hatte dabei keine rühmliche Rolle gespielt, und für einen Moment den Kompass verloren. Das hatte gereicht. Ich habe mich geschämt für mich damals. Aber passiert war passiert. Und die Aktion von Gutzeit war Rettung in letzter Minute gewesen.

 

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Nach Niederndodeleben, wo wir Meckel treffen wollten um eine Sitzung des geschäftsführenden Ausschuss durchzuführen, es war in den Tagen unmittelbar nach dem Mauerfall, fuhren Gutzeit und ich in meinem Trabbi auf dem Berliner Ring gen Westen, und an einem unendlichen Stau von DDR-Autos auf der Gegenfahrbahn vorbei. Alles Leute, die jetzt nach Westberlin strebten. Gutzeit sinnierte über das, was denen jetzt bevorstand, nicht im negativen Sinne. Und er erzählte mir, dass er seinen Bauern schon lange vorher eingeschärft hatte, dass sie ihre Grundstücke behalten sollten, wenn die Wessis kommen würden. Er sah den Finanztransfer aus Westdeutschland voraus, den Vermögenszuwachs in Ostdeutschland, der ja heute sichtbar in vielen Regionen eingetreten ist, nicht nur in den Städten. Und dann sagte er an diese Leute denkend: „Dankbarkeit ist keine politische Kategorie!“. Wir lachten hier nicht so viel wie sonst. Ich lächelte eher. In diesem Satz lag sicherlich viel Menschenkenntnis, aber auch Bitternis. Er sollte einem helfen, das Unabweisbare hinzunehmen. Aber das ist nicht immer so einfach, wie es klingt. Niemanden war die Endlichkeit unseres politischen Handelns so klar, wie Gutzeit. Meckel nicht, und mir schon gar nicht. Ich dachte damals, dass Gutzeit zu pessimistisch ist. Und da ja Einstellungsfragen auch Erfahrungsfragen sind, gedachte ich für mich, diese Endlichkeit auszutesten. Gutzeit ließ mich gewähren. Er hatte seinen Satz gesagt. Es lag an mir, meine eigenen Erfahrungen zu machen. Doch als auf dem letzten Parteitag der Ost-SPD im September 1990 die ganze Riege der Ost-SPD-Gründer, und zwar der unmittelbaren eigentlichen Macher, Gutzeit, Meckel, auch Schröder oder auch ich, abgewählt wurden, und statt dessen dieser Stasi-Spitzel Böhme, oder die populistische Regine Hildebrandt, auch Angelika Barbe mit großen Mehrheiten in den künftigen Vorstand der nunmehrigen gesamtdeutschen SPD gewählt wurden, da war Gutzeit traurig. „Dankbarkeit ist keine politische Kategorie!“ Man kann das wissen, aber es auszuhalten, ist eine ganz andere Frage. 

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