K(l)eine Geschichte der SDP (12)

Die SDP und die West-SPD

 

Meine Beurteilung der Politik der West-SPD im Zusammenhang mit unserer Gründung schwankt zwischen: „Auf dem falschen Fuß erwischt.“ und „Zurückhaltend weise“. 

 

Wir hatten die West-SPD nicht gefragt, Gutzeit hatte versucht, ein Signal zu geben. Gert Weißkirchen hätten etwas ahnen können. Mehr war nicht. Das war richtig so. Wir waren nicht diejenigen, die um Erlaubnis hätten ersuchen sollen. Und die West-SPD war nicht diejenige, die sie hätte erteilen dürfen oder können. Und um die letzten Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, verständigte  sich die Vorbereitungsgruppe für die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR auf den Namen SDP, also eben nicht SPD. Nun gab es erst recht keine, zumindest rein rechtliche Berührungspunkte mehr. 

 

Dieses Verhalten war einerseits eine vernünftige politische Strategie. Denn in der Politik ist es so, dass die eigene Strategie häufig in Konkurrenz zu anderen steht, wenn nicht sogar gegeneinander gerichtet. Und wer fragt schon Konkurrenten, wenn er ein eigenes Produkt auf den Markt bringen will. Andererseits galt natürlich auch der alliierte Rechtsvorbehalt gegenüber allen Fragen, die das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander tangiert. Schon deshalb musste sich die West-SPD zurückhalten, sie durfte nicht mal den Anschein einer Einflussnahme erwecken, auch wenn Mielke angesichts unserer Gründungsaktivitäten einen „Generalangriff“ der West-SPD dahinter vermutete. Dem war nicht so. Dieser Generalangriff kam nicht von außen, er kam von innen. 

 

Die West-SPD hat aber auch nicht auf eine etwaige Gründung einer eigenständigen sozialdemokratischen Partei in der DDR gesetzt. Man kann auch nicht so ohne weiteres sagen, dass sie auf die SED gesetzt hätte. Sie wollte Veränderungen innerhalb der SED, sie mahnte permanent Reformen an. Die lagen auch im Interesse der damaligen Sowjetunion unter Gorbatschow. Sie wären wichtig gewesen für ihn. Doch die Politbüroriege blieb bei ihrem stalinistischen Kurs, auch wenn Honecker sich sehr für die internationale Anerkennung seiner DDR einsetzte, und sich natürlich auch gegenüber der Bundesrepublik  verhandlungsbereit zeigte. Aber er pochte auf die Eigenständigkeit der DDR, er wollte diesen Staat erhalten. Das aber lag nicht in der Konsequenz der Gorbatschow‘schen Öffnungspolitik gegenüber dem Westen, ja der Annäherung von Ost und West. 

 

Die SED versuchte die DDR im Griff zu behalten, wenn es sein musste mit Gewalt, wie der Besuch von Krenz in China nach der Niederschlagung der Studentenrevolte auf dem Platz des Himmlischen Friedens es signalisieren sollte, und wie es auch durch verschiedene Verhaftungsaktionen von Oppositionellen immer wieder dokumentiert wurde. 

 

Die SED kam unter Druck durch die Gorbatschow’schen Demokratisierungsbemühungen. Und natürlich auch durch die permanenten Reform-Anmahnungen der West-SPD. Das war nicht ohne, wenn man bedenkt, dass die West-SPD in den 80er Jahren über die besten Kontakte in die SED verfügte, ein Zustand, von dem die SED erheblich profitierte. 

Für das Image der SPD innerhalb der Bevölkerung der DDR waren diese Kontakte gefährlich. Mit der West-SPD führte die SED einen intensiven Dialog, mit ihrer eigenen Bevölkerung nicht. Sah die West-SPD die Folgen nicht? Was war mit ihrem Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie, wenn sie mit den Unterdrückern von Freiheit und Demokratie ein einvernehmliches, teils sogar herzliches Verhältnis pflegte? Diese Politik führte zu einem Gefühl des Im-Stich-Gelassen Seins, ja der Entsolidarisierung mit den um Freiheit ringenden Menschen in der DDR. Das betraf  natürlich in erster Linie die Opposition in der DDR. 

 

Noch schlimmer wurde das mit dem Streitkultur-Papier der Eppler’schen Grundwertekommission und den Leuten um Otto Reinhold und Rolf Reissig von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Dessen Grundaussagen widersprachen unseren Grundannahmen. In unseren Augen war der Streit zwischen westlichen und kommunistischen Werten schon lange entschieden, und zwar zugunsten ersterer. In Freiheit, Menschenrechten und Demokratie lag der Sinn meines eigenen politischen Engagements. 

 

Es mag sein, dass das Streitkulturpapier taktisch gemeint war. Verlierer war aber vor allem die SPD. Eine Partei, die der SED ideologisch auf den Leim ging, machte auf mich einen naiven Eindruck. Die SED konnte dieses Streitkultur-Papier propagandistisch ausschlachten. Die darin verborgene Anerkennung stärkte sie, auch wenn sie dafür innerparteiliche Diskussionen aushalten musste. Die Bevölkerung profitierte in keiner Weise. Die Opposition spürte nicht den Hauch einer neuen Dialogbereitschaft. Aber die SPD geriet in den Geruch von Kumpanei mit den SED-Genossen, um des Friedens und der Stabilität willens. Sie brachte die Bevölkerung der DDR damit in die Situation einer Art Geiselhaft für den Weltfrieden. Darin konnte keine Perspektive liegen. 

 

Die SPD waagte viel, um die SED auf Reformkurs zu bringen. Am Ende konstatierte Eppler ernüchtert, dass man die SED nicht daran hindern könne sich selbst zu Grunde zu richten, wenn sie es denn wolle. Eppler sah durchaus den Prozess der Erosion der Macht der SED. Aber, und das ist wohl der springende Punkt, hätte er ihr gerne eine aktive Rolle bei der Demokratisierung der DDR und den  Annäherungsprozessen von Ost und West zugedacht. Alleine, das war für die SED der Rubikon, den sie nicht überschreiten wollte. Die SPD war bei der SED an die Grenzen des „Wandels durch Annäherung“ gestoßen. Das war ihr Selbsterhaltungstrieb. Das die SED damals schon blind war, dass sie das Dilemma, in dem sie sich durch die Gorbatschow‘sche Politik befand nicht sah, oder wahrhaben wollte, zeigt sie sich außerdem noch dumm. 

 

Doch trotz der niederschmetternden Erfahrungen und seiner großartigen Rede am 17.Juni 89 im Bonner Wasserwerk setzten die unterschiedlichsten SPD-Politiker und zwar auf allen Ebenen ihre Besuchspolitik bei der SED fort. Das war schon nicht mehr naiv, das war zunehmend ignorant. Und das machte es der West-SPD nicht gerade einfach, mit der Gründung einer eigenständigen sozialdemokratischen Partei in der DDR umzugehen. Insofern kann man sagen, dass die Gründung der SDP die SPD auf dem falschen Fuß erwischt hat. 

 

Doch das ist nur die eine Seite. 

 

Denn auf der anderen Seite hatte die SPD sehr wohl die Folgen der Annäherungspolitik von Gorbatschow im Auge. In Ungarn war eine sozialdemokratische Partei entstanden. Ihre Vertreter öffneten ihr Land für den Westen. Auch die polnischen Kommunisten ließen sich auf die Demokratisierung ihres Landes ein, nahmen ihre Abdankung in Kauf, ja lösten sich schließlich auf. Die SPD wusste sehr wohl, dass diese Entwicklungen Gorbatschow zu verdanken waren. Da entstanden im Osten neue sozialdemokratische Parteien, veränderten sich kommunistische in diese Richtung. Zu diesen musste sich die SPD verhalten. Sie war gewillt, sie als Partner anzuerkennen. Willy Brandt signalisierte als Chef der Sozialistischen Internationale ein Willkommen; seine SI bereitete sich auf die neuen sozialdemokratischen Partner in Ost – und Mitteleuropa vor. Auch die SPD erklärte diese neu entstehenden sozialdemokratischen Parteien zu ihren Partnern. All dies waren klare Signale, die man sicher auch im ZK der SED beobachtete. 

 

Dies galt dann Im Grundsatz auch für das Verhältnis der SPD zu unserer Gründung. Entsprechend äußerte sich der Bundesvorsitzende Hans-Jochen Vogel vor der Bundestagsfraktion im September 89 auch. Doch natürlich hat die SPD die Gründung ihres zukünftigen ostdeutschen Partners nicht betrieben, sie hat sie nicht unterstützt, konnte es nicht, schon weil sie es nicht wusste. Und diese Zurückhaltung hat uns genutzt.  

 

Als wir unsere Gründung vollzogen hatten, da haben sehr schnell und zwar noch vor dem Mauerfall drei wichtige Kontakte stattgefunden; auf drei Ebenen: einer davon auf europäischer, einer auf bundesdeutscher, d.h. nationaler und einer auf Berliner Ebene. 

Am 9. November, nachmittags (der Mauerfall fand erst in der Nacht statt) besuchte uns eine Delegation der sozialistischen Mitglieder des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments. Wir trafen uns quasi offiziell in einem Café im Palast der Republik unter den Linden, schräg gegenüber dem Staatsratsgebäude mit dem charakteristischen Barockportal vom ehemaligem Berliner Schloss. 

 

Kurz vorher bereits war Norbert Gansel, damals Vorsitzender des Parteirats mit Vertretern der SDP in der Wohnung des Berliner Grafikers Martin Hoffmann in der Ost-Berliner Brunnenstraße zusammengetroffen. Und es hatte bereits ein Treffen der Westberliner SPD in der Wohnung von Thomas Krüger und seiner damaligen Lebensgefährtin Sabine Leger mit Vertretern der SDP stattgefunden. Alles fand in dieser Übergangsphase statt. Die Treffen konnte man kaum noch konspirativ nennen, aber legal waren sie auch nicht. Spürbar war eine neue Epoche angebrochen. 

 

Die Krönung dieser Kontakte bestand in einem legendären Treffen von Vertretern der SDP mit dem Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale und Ehrenvorsitzenden der SPD, Willy Brandt, dem Bundesvorsitzenden der SPD, Hans-Jochen Vogel und, dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Hans-Dietrich Stobbe, MdB sowie Gert Weisskirchen, MdB statt. Dabei erhielt die SDP ihre letzte und höchste Anerkennung durch die West-SPD, die überhaupt denkbar war. 

 

Bei dieser Gelegenheit erzählte Brandt von seinem Gespräch mit Gorbatschow, worin dieser die Information über die Gründung der SDP freundlich quittierte. Außerdem kündigte Brandt den Besuch von Vertretern der schwedischen Sozialdemokratie im Auftrag der sozialistischen Internationale an. Durch diese wurde bereits wenige Tage später eine Einladung in die Ratstagung der Sozialistischen Internationale nach Genf ebenfalls noch im November 89 ausgesprochen, auf welchem wir als offizielle Vertreter der SDP das erste Mal international aufgetreten sind. 

 

Mehr Anerkennung war auf Seiten der SPD kaum möglich. 

 

Vielleicht war es ein Zufall, dass Egon Bahr nicht dabei war, vielleicht wollte er auch nicht, vielleicht wusste er nichts davon, was nicht wirklich vorstellbar ist. Was sich zwischen ihm und Willy Brandt damals abgespielt haben mag, ist bis jetzt im Dunkeln geblieben. Immerhin war Bahr der wichtigste Deutschlandpolitiker der SPD. Über seinen Versuch, die abgewirtschaftete SED wieder ins Spiel zu bringen, wird an anderer Stelle zu reden sein. 

Die Entspannungspolitik der SPD, die sie nach der Entmachtung ihres zweiten Nachkriegskanzlers Helmut Schmidt betrieben hatte, letztlich aber auch Schmidt selber, der mal von Honecker als deutschem Patrioten gesprochen hatte, hatte die SPD als Freiheits- und Demokratiepartei in ein schiefes Licht gerückt, welches diesen späteren Diskreditierungsversuch von Volker Rühe mit seiner Abqualifizierung der Entspannungspolitik der SPD als sogenannten „Wandel durch Anbiederung“ so gefährlich gemacht hatte. Es war nicht immer richtig gewesen, wie die SPD gegenüber der DDR und der SED agiert hat. Und die SPD und auch wir würden dafür zu bezahlen haben. Doch das spielte sich erst einige Monate später ab. 

 

Vorerst, spätestens mit dem Mauerfall, und den nun möglichen ungehinderten Besuchen zwischen Ost und Westdeutschland herrschte High Noon Stimmung zwischen den beiden Schwesterparteien SDP und SPD. Viele SPD-Mitglieder machten sich auf eigene Faust in die DDR auf, um hier ihre in Ostdeutschland agierenden „Genossen“ kennenzulernen. Und daraus wurde sehr schnell eine handfeste, organisatorische und finanzielle Unterstützung. Gerade auf dieser Ebene gab es überhaupt keine Berührungsängste. Und wir profitierten enorm davon. 

 

Im Dezember 89 erklärte der PV der SPD die SDP zu seinem wichtigsten Partner in der DDR. Das beendete auch formal das besondere Verhältnis zwischen SED und SPD. Eine gemeinsame Kommission von SDP und SPD wurde gegründet, die gemeinsam von Johannes Rau und mir geleitet wurde, und die sich gerade im Vorfeld der ersten freien Wahlen in der DDR als sehr hilfreich erwiesen hat. 

 

Hans-Jochen Vogel schien eine bestimmte Sorge umzutreiben. Immer wieder stellte er die Selb- und Eigenständigkeit der SDP heraus, in deren Angelegenheiten sich die SPD nicht einmischen wolle und solle. Meine Sorge war das nicht. Aber vielleicht kannte Vogel seine eigenen Genossen nur zu gut, und wollte einem allzu raschen Griff seiner eigenen Leute in die Machtverhältnisse der ostdeutschen Schwesterpartei einen Riegel vorschieben. 

 

Die organisatorische Unterstützung, die die SPD im Westen ihrer ostdeutschen Schwesterpartei organisatorisch und politisch widerfahren hat lassen, kann man nicht hoch genug einschätzen. Die Entwicklung der SDP nahm einen weiteren enormen Aufschwung. Wir waren nicht mehr alleine. Wir waren nicht mehr nur eine der demokratischen Initiativen aus der Friedensbewegung der DDR heraus. Wir waren eine ernstzunehmende politische Kraft in der DDR der friedlichen Revolution, und wir schickten uns an, spätestens mit den ersten freien Wahlen Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das wäre ohne die intensiven Kontakte zur West-SPD so nicht möglich gewesen.