Die DDR und ihre Macht – der Machtapparat der DDR

(Vortrag auf dem Bautzen Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung 5/2010)

 

Noch vor 2 Wochen habe ich zugesagt, den Titel meines Vortrages exakt auszufüllen.
Doch heute werde ich hemmungslos subjektiv und erbarmungslos persönlich sein.
Ich möchte Ihnen etwas erzählen.
Ich bin in der DDR aufgewachsen. Sie hat mich geprägt, so wie einen die Kultur prägt, in der man groß wird. So wie einen die Eltern erziehen, die man (im Gegensatz zu diesem Staat DDR)  liebt, aber über deren Erziehungsmethoden man unterschiedlicher Meinung sein kann. Dennoch haben sie mich dauerhaft geprägt. Man konnte ja gar nichts dagegen machen. So wie die geschichtlichen Zeitumstände sind, in die man hineingeboren wird, und an denen man sich zu reiben beginnt, wenn man heranreift, und sich ein eigenes politisches Bewusstsein bildet. Ich bin durch die Schulen der DDR gegangen, die polytechnische Oberschule, den Volkseigenen Betrieb, um meinen Facharbeiter zu machen, die NVA, um das militärische Handwerk zu erlernen, die Massenorganisationen DSF und FDGB, um nicht allzusehr als renitenter Feind der DDR aufzufallen. Ich habe jeden Tag die Mauer gesehen. Und vorher die Grenze, als da noch keine Mauer stand. Ich habe Schüsse gehört. Ich  war auf den Kampfdemonstrationen für den Frieden, wo sie fast alle waren, meine Mitbürger, meine Mitschüler. Ich war wählen, und versuchte mich vergeblich an einer NEIN-Stimme. Später ging ich nicht mehr hin.
Ich habe mir Mühe gegeben in der Schule, war ein guter Schüler. Aber die DDR wollte meine Leistung nicht, zumindest nicht auf der Erweiterten Oberschule, und nicht auf der Universität. Ich wollte auch Musik studieren, aber die DDR wollte meine musikalischen Fähigkeiten nicht. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich überhaupt nicht wollte.
Mein Vater wollte, dass ich Theologie studiere. Er hatte Mitleid mit mir. Sah er die Fortsetzung des Familienschicksals einer protestantischen Pfarrfamilie in mir ? Spürte er die Last, die er sich und seiner Familie aufgepackt hatte, als er in die DDR ging in Sühne für seinen Vater, meinem Großvater, auch ein Pfarrer, leider gleichzeitig NSdAP-Mitglied, als er zu den Menschen ging, wo man als evangelischer Pfarrer zu sein hat, bei den Menschen in Not ?
Aber ich wollte kein Pfarrer werden. Und deshalb wollte ich auch nicht Theologie studieren. Ich wollte den Menschen nicht auf der Kanzel her ungeglaubte Phrasen verkündigen. Ich wollte nicht vorm Altar ungeglaubte Gebete sprechen. Und ich wollte nicht Theologie studieren, nur um überhaupt studieren zu können, nur um überhaupt Abitur machen zu können. Und außerdem empfand ich die Kirche inzwischen als feige. Auch sie traute sich nicht, die Zwangslage, in die dieser Staat DDR seine Bürger jeden Tag aufs neue brachte, beim Namen zu nennen.
Aber die Kirche wollte nicht zuviel riskieren. Sie wusste, dass die SED ihr einen Kampf auf Leben und Tod aufgezwungen hatte. Und sie stand in der Gefahr, diesen Kampf zu verlieren. Und deshalb wollte sie keinen Vorwand für weitere Zwangsmaßnahmen der DDR liefern.
Ich dachte dabei immer nur, dass das Herauszögern des eigenen Todes auch kein lebenswertes Leben darstellt. Denn die SED hatte ja alle Machtmittel in der Hand. Sie konnte der Kirche den Hahn abdrehn, wann immer sie wollte. Wenn sie es nicht tat, dann weil es ihr nicht opportun erschien. Irgendwelche Gründe sprachen dagegen, vorerst. Aber die Macht dazu hätte sie gehabt.
Ich hatte keine Lust darauf, diese täglichen, kleinen, vergeblichen, ängstlichen Kompromisse mit auszuloten.
Ich hasste die DDR.
Sie zwang die Menschen zu lügen. Sie zwang sie, ihre Verwandten zu verraten. Sie zwang sie, zu heucheln, sich anzupassen. Sie war fürchterlich provinziell. Sie dachte, sie sei so gut. Dabei war sie so armseelig. Sie war langweilig, und gleichzeitig ängstlich und reizbar. Sie fühlte sich von jedem, der seine eigene Meinung sagte, provoziert. Ihre Ideologie war der größte Schwachsinn. Man musste Knicke im Gehirn haben, wenn man dieser marxistisch-lenistischen Weltanschauung etwas abgewinnen wollte.
Ich wollte neben meiner Lehrausbildung auf der Volkshochschule Abitur machen. Ich durfte nicht. Angeblich waren meine Leistungen zu schlecht. Stimmt. Sie waren schlecht, weil ich keine Lust auf diesen drögen trockenen Lehrstoff hatte, den ich nur zwangsweise konsumierte. Ich hatte die Ablehnung vom Abitur in der achten Klasse nicht verwunden. Sie traf mich an einer wunden Stelle. Ich war extrem ehrgeizig. Und ich wollte etwas erreichen. Ich wollte etwas darstellen, eine grosse Erfindung machen, eine große Entdeckung. Meine Idole waren Nils Bohr, Ernest Rutherford. Max Planck, Werner Heisenberg. Jetzt war ich abgeschnitten, sollte Normalverschnitt sein, so wie alle anderen. Das wollte ich nicht. Das Leben verlor seinen Sinn für mich. Wer weiss schon, wie schwer einem das Lernen fällt, wenn es einem genommen wird.
Nach meiner Armeezeit wollte ich überhaupt kein Abitur mehr machen. Diesem Staat weitere drei Jahren meines Lebens in den Rachen werfen, ohne Garantie dann studieren zu können, was ich gerne wollte, kam für mich nicht mehr in Frage.
Ich verweigerte mich diesem Staat ohne diese Verweigerung mit einer inhaltlichen Lebenssubstanz kompensieren zu können. Auf die Dauer aber wird man von Verweigerung nicht satt.
Und ich begann langsam etwas zu tun, was ich immer gehasst hatte, ich begann mich abzufinden. Die Jahre vergingen. Ich gründete eine Familie, die ich liebte, und in der ich mich wohlfühlte. Aber als Ersatz für die Entbehrungen im öffentlichen Leben taugte sie nicht. Ich mochte meinen Beruf, obwohl er mir zu wenig war, es war trotzdem ein schauer Beruf. Ich war neidisch auf den Westen. Aber ich verbot mir den Wunsch, dorthin zu ziehen. Denn man lässt seine Freunde, Verwandten und Kollegen nicht im Stich. Doch im Innern bohrte noch eine ganz andere Sorge. Überließ man den Kommunisten nicht das Schlachtfeld, wenn man sich einfach aus dem Staube machte ? Durfte man die Herausforderung seines Lebens beantworten mit persönlichen Vorteilen, die einem die Flucht in den Westen vermittelten? War es nicht ein besonderes Zeichen von Feigheit, wenn man den Selbstbehauptungskampf in der DDR aufgab, den Kommunisten das Schlachtfeld überließ? Sollten sie weiter Lebensträume vernichten dürfen, Menschen kaputtspielen, Landschaften ruinieren, die Wirtschaft zerstören?
Ich fühlte die Last unserer Geschichte auf mir, ohne eine Antwort zu haben. Ich zerbrach mir den Kopf über der Frage, wie dieses politische Problem lösbar war.
Ich wusste, dass die Russen im Lande waren. Ich wusste, dass die kommunistische Machtzentrale in Moskau war. Aber die Kommunisten in der DDR waren nicht einfach sowjetische Handlanger, sie waren keine fünfte Kolonne. Sie wollten die Macht ganz bewusst für sich. Das waren Deutsche. Sie wollten einen sozialistischen Staat auf deutschen Boden. Sie wollten eine sozialistische Gesellschaft. Sie wollten die Menschen formen, umformen. Sie hassten mich, weil ich ihnen nicht mehr formbar erschien. Sie hassten den Westen. Sie hassten die Sozialdemokraten. Sie hassten die Unternehmer. Sie hassten die Kirche. Und sie hassten die Freiheit. Sie hassten die Wahrheit. Und sie hassten die Geschichte. Sie hatten ein eigenes Geschichtsbild. Das hatte zwar mit den historischen Fakten nichts zu tun. Dafür aber mit ihren kommunistischen Visionen, Hoffnungen und Utopien umso mehr. Vor allem mit ihrer Macht. Damit man die reale Geschichte nicht verstand, wurde man mit der kommunistischen Geschichtsideologie konfrontiert. Selten so ein langweiliges Fach erlebt, wie den Geschichtsunterricht in Klasse 9 und 10, der sich nur noch mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigte. Kompletter Schwachsinn, dass von der Arbeiterklasse ein einziger Segen für die Zukunft der Menschheit ausging. Mir fehlte es nicht an Mitleid mit dem Schicksal der Industriearbeiter besonders im 19. Jahrhundert. Aber dass sie nun der Bannerträger des Fortschritts sein sollten, das war doch ein bisschen weit her geholt.
Und noch schlimmer war der Umgang der Kommunisten mit der Wahrheit. Das letzte, was man in der DDR sagen durfte war die Wahrheit. Da machte man sich zum Staatsfeind. Nein, der Sozialismus musste gelobt, und der Imperialismus gebrandmarkt werden. In der DDR war alles gut, im Westen war alles schlecht. Das war so primitiv, dass es gleichzeitig abschreckend und unglaubwürdig war.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Mitschüler diesen Schwachsinn glaubten. Zumindest anfangs nicht. Und eine Mehrheit von ihnen schon gar nicht. Das Mitmachen bei den Jungpionieren in der Grundstufe (Klasse eins bis vier) war noch kindlich naiv, nachvollziehbar verständlich. Aber ich als Kind einer Pfarrersfamilie durfte da nicht hin. Ich durfte kein Jungpionier werden, weil meine Eltern nicht wollten, dass ich ein Opfer der frühkindlichen kommunistischen Indoktrination wurde. Das wusste ich damals nicht. Ich verstand dieses Verbot nicht. Ich wollte bei meinen Mitschülern sein. Ich wollte nicht ausgeschlossen werden. Ich ging heimlich zu den Jungpionieren, und versteckte mich dort unter dem Tisch. Dort entdeckte mich die Lehrerin und schickte mich nach Hause. Da war aber nicht nur Verdruß über die Verletzung eines Verbotes in ihrer Stimme. Da schwang Mitgefühl mit. Ich verstand das alles nicht. Meine Eltern blieben hart. Ich habe ihnen das später nicht übelgenommen. Nicht sie haben mich zum Opfer gemacht.
Wann ich merkte, dass die anderen Mitschüler eine eigene Entwicklung durchmachten, weiss ich nicht mehr genau. Wir sprachen die gleiche Sprache. Wir hatten die gleichen Freunde. Wir hatten die gleichen Auseinandersetzungen. Wir wetteiferten um die Gunst der gleichen Lehrer. Aber es gab da Pionierleiterinnen, die waren nur für Pioniere da. Und es gab die Mitschüler, die gehörten zur Pionierleitung der Schule. Es gab Vorsitzende bei den Pionieren und Thälmannpionieren. Das war die Pionierorganisation in der 5. und 6. Klasse.  
Es gab die ersten FDJ-Sekretäre. Es gab die Jugendweihe. Die meisten machten Jugendweihe. Ich war anders. Ich versuchte meine Mitschüler zu verstehen. Aber richtig verstand ich sie nicht. Ich konnte diese Jugendweihe nicht nachvollziehen. Was sollte das sein, eine Weihe ? Das klang so religiös. Und das in einem aufgeklärten Zeitalter, eines der Wissenschaft und der Vernunft. Warum so ein komischer Ritus? Wenn die Kirche das machte, ihre Sache. Aber die Bannerträger einer sogenannten, selbsternannten wissenschaftlichen Weltanschauung? Wenn ich es richtig überdenke, war ich natürlich kein Anhänger dieser Weltanschauung, aber Anhänger einer Art praktischen Vernunft, wo kein Platz für Religion mehr war, das war ich schon. Umso weniger war diese Jugendweihe zu verstehen. Das klang allzusehr nach Budenzauber, merkwürdigem Musche-Bu-Bu, nach einer typisch kommunistischen Erfindung, durchgesetzt mit dem entsprechenden Anpassungsdruck.
Ich frug meine Mitschüler, wie sie so etwas wie eine Jugendweihe machen konnten. Die meisten gaben keine Antwort, zuckten mit den Schultern, brachten irgendwie ihr Unverständnis über meine Frage zum Ausdruck. Andere schwärmten von den vorbereitenden Veranstaltungen. Da machte man Ausflüge. Da übte man sich in Solidarität. Da ging man ins Pionierhaus, da wurde experimentiert und über die Welt von morgen geredet. Das hörte sich nicht schlecht an. Aber die Vorstellung, dass dann die 14-jährigen sich auf der Bühne in FDJ-Kleidung mit blauem Halstuch in einem Theater oder Kulturhaus in einer Reihe aufzustellen hatten, dass dann eine salbungsvolle Rede mit diesem ideologischen Schwachsinn gehalten wurde, dass man dieses Buch: „Weltall, Erde, Mensch“ – eine einzige kommunistische Verherrlichung und Utopie übrreicht bekam, die machte mir Angst. Das war mir zu billig. Das war verlogen. Und niemand meiner Mitschüler dachte sich etwas bei dem Begriff der Weihe in Jugendweihe.
Da war Konfirmation schöner. In der Kirche war die Musik schön. Die Bibel war schön, die Texte waren toll, voller Geheimnisse und so viel Weisheit. Der Pfarrer lief im schwarzen Talar rum. Die Kirche gefiel mir. Dieser altertümliche Raum mit den geheimnisvollen, alten Bildern. Wir waren auch frech im Konfirmandenunterricht. Der Pfarrer regte sich so herrlich auf, wenn wir auf der Kanzle Unfug trieben.  
Manche meiner Mitschüler machten beides. Konfirmation und Jugendweihe. Ehrlich war das nicht. Aber was sollten sie tun? Ihre Eltern wollten ihren Kindern keine Schwierigkeiten bereiten. Dennoch  glaubten sie nicht an diese Jugendweihe. Das war kommunistischer Budenzauber. Nichts richtiges fürs Leben. Da war Kirche besser. Aber die eigenen Kinder sollten nicht unter diesem Regime zu leiden haben. Schließlich hing vom Wohlverhalten eine ganze Menge für ihr späteres Leben ab. Sie übten ihre Kinder ein. Leben unter einer Diktatur verlangt Opfer, kleine und große Kompromisse.
Kompromisse wollte ich nicht.
Dann begannen diese Werbungen für NVA-Offiziere. Die Kindheit war zu Ende. Und der Zauber der Jugend wurde überschattet mit lauter wichtigen Entscheidungen fürs Leben, wo man sich immer fragte, ob der Preis für das Festhalten an der eigenen Überzeugung nicht zu hoch war, oder gerade noch hinnehmbar.
Die sich für ein Leben in diesen kommunistischen Strukturen entschieden, waren ja meine Mitschüler und blieben das auch. Sie waren ja nicht einfach schlechte Menschen. Unter Kindern ist man ehrlich. In der Jugend wurde das anders. Man sah genau, warum sich jemand für eine Offizierslaufbahn entschied. Manchmal wars echte Begeisterung fürs militärische, für militärische Technik. Pilot sein, das war doch etwas. Das waren noch die ehrlichen. Doch dann kamen die, die genau wussten, dass sie einen Preis fürs Fortkommen bezahlen wollten, denen die ganze NVA schnuppe war, aber dass sie dann einen Platz auf der Erweiterten Oberschule gratis bekamen, und einen Studienplatz dazu, wenn sie nicht zu blöde dafür waren, das war ihnen wichtig. Da war der Geschmack von Heuchelei, von Entsolidarisierung, von Anpassung und von Egoismus. Ich wandte mich ab. Das gefiel mir nicht. Diese Jungen wussten genau, dass es ihnen nicht um Überzeugung ging. Es ging ihnen ums Geld, um sozialen Aufstieg, um berufliches Fortkommen. Die Schule honorierte das. Der Direktor lobte sie, eine bigotte Veranstaltung. Wo blieben bei diesen Anpassungsorgien die eigenen Überzeugungen? Wofür lebten diese Jungen eigentlich ? Was war ihnen eigentlich wichtig? Ich verstand sie nicht.
Bei den Mädchen war das nicht ganz anders. Gott sei Dank mussten die nicht zu Armee. Dafür waren sie fleißig bei der FDJ, im Freundschaftsrat, rissen sich um den FDJ-Sekretärsposten. Sie übernahmen die Rollen der Lehrer, die bis dahin den Schülern ideologisches Wohlverhalten beizubringen gehabt hatten. Jetzt halfen ihnen diese FDJ-lerinnen dabei.
Die Wege hatten sich getrennt.  Nicht alle waren so. Nicht jedem schien wohl dabei zu sein.
Es war die Zeit, wo man ein Gespür dafür bekam, wer ehrlich und überzeugter Weise Anhänger dieses Staates wurde, und wer sich aus reinem Opportunismus nur anpasste. Erstere waren mir lieber. Vor den letzteren grauste mir. Ob das eine richtige Unterscheidung war ? Noch wusste ich nicht, wozu Überzeugungstäter in der Lage sind. Aber ich erkannte eine ehrliche Überzeugung an. Diese Leute waren wenigstens authentisch. Die anderen gaben alles preis, was den Wert des Lebens in meinen Augen ausmachte. Sie verkauften sich. Furchtbar.
Für die meisten Mitschüler kam EOS sowieso nicht in Frage. Und da waren nicht wenige drunter, wo ich das Gefühl hatte, dass sie über verschüttete Begabungen verfügten. Die Schule in der DDR hat sie nicht gehoben. Und dass offenbar meine Begabung, zumindest was Lernen, Wissen und Denken betrifft, zur Oberfläche gekommen war, war kein Verdienst der Schule, sondern der täglichen Gespräche über Geschichte, Wissenschaft und Politik zu Hause.
Nach der achten Klasse aber waren die Messen gesungen. Mehltau legte sich über die Landschaft.
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Doch irgendwann verschwand der wieder.
„Die DDR auf Dauer braucht weder Knast noch Mauer – wir bringen es soweit!“ sang Biermann, erinnern Sie sich noch ? Kaum ein Liedermacher brachte die Gefühlslage von uns damals so auf den Punkt, wie er.
Da war er schon weg. Ich hatte ihn noch erlebt, persönlich, den Barden, den angebeteten Künstler, den Mutigen. Welche eine Kraft in der Sprache, was für ein Gefühl in der Musik. Und doch: „So oder so, die Erde wird rot.“. „Wie ich sie unter Italiens Himmel wachsen seh.“ Das war eine Anspielung auf den Eurokommunismus. Das war nun nicht genau mein  Lebensgefühl. Da stimmte was nicht. Und als Biermann dann in Köln bei dem berühmten Konzert, welches das Politbüro der SED zum Anlass nahm, ihn auszuweisen, bei Rainer Kunze differenzierte zwischen Freund und Genosse, als er allzusehr den kommunistischen Traum bemühte, da war er eigentlich auch schon ausgeträumt.
Biermann war ein ehrlicher Kommunist gewesen. Aber er verkörperte den Kommunismus nicht. Nur seine Sehnsucht. Die kommunistische Wahrheit war was anderes. Das war Politbürokratie, Unrechtsstaat, Mauer, politische Haft, Diskriminierung, Totalitarismus, Niedergang.
Und natürlich die Niedeschlagnung des Prager Frühlings 68. Da war ich 12 Jahre alt. Und spürte doch, dass hier eine Wendung eingetreten war, die welthistorisch zu nennen, nicht zu tief ansetzt. Denn mit der Niederschlagung des Prager Frühling wurden Hoffnungen beerdigt, die zum Kitt des Kommunismus, zwischen den Mächtigen und den Gläubigen gehört hatten. Jetzt aber stand fest: Das kommunistische, von Moskau diktierte reale Weltsystem würde nicht von sich aus heraus den Weg zur Freiheit einschlagen. Der Glaube an ein kommunistisches Paradies begann zu zerrinnen. Das System begann sich auszuhöhlen.
Was hatte diesen Kommunismus nur so stark gemacht ? Ich wusste es nicht, aber es wurde immer deutlicher welchen Niedergang für unser Land er bedeutete.
Warum sagten diese Menschen nichts ? Warum schwiegen sie ?
Warum duldeten sie, warum passten sie sich an ? Warum ließen sie sich demütigen, peinigen, quälen ?
Meine erste Diskussion hatte ich in der Schule in der 2. oder 3.  Klasse. Die Vertragsstaaten des Warschauer Paktes hielten ihr Jahresmanöver das erstemal in der DDR ab – Anfang der 60-ger Jahre. In Thüringen. Die DDR war wahnsinnig stolz darauf. Sie veröffentlichte eine Meldung nach der nächsten darüber, eine Reportage löste die andere in unseren einschlägigen Wochenzeitungen ab, in der Wochenpost, der NBI. Und unsere Lehrerin, eine Frau Kreibig, wollte, dass jeder von uns sich eine Mappe über dieses hochpolitische militärische Ereignis mit all den Veröffentlichungen anlegen sollte. So einer Art privater Wandzeitung.
Als ich das zu Hause erzählte, da rastete plötzlich meine Mutter aus. Das hatte ich noch nicht erlebt. Bis dahin war es mein Vater, der gegen diesen Staat polemisierte. Aber nun plötzlich meine Mutter: „Das kommt gar nicht in Frage. Da reden die immer davon, ‚Nie wieder Krieg!‘ Jetzt fangen sie an, den Krieg zu verherrlichen. Und die Natur, da wird halb Thüringen niedergewalzt. Also; Du machst das nicht. Punkt. Aus. Schluss. Basta.“ Sie konnte sehr entschieden sein. Und ich hatte gar keine Wahl. Eigentlich hatte ich mir das ganz praktisch vorgestellt. Zwar machten mir die Panzer Angst. Die Vorstellungen, dass Soldaten sich überrollen lassen mussten, um dann doch am Leben zu bleiben, erschien mir allzufürchterlich. Dennoch, so schlimm konnte es ja nicht sein, diese Artikel zu sammeln und dann auszuschneiden, aufzukleben. Und das ganze auf mehreren Seiten. Das wär er schon gewesen.
In der Schule warf ich in der nächsten Stunde diese Frage auf. Ich stand auf, weil man als Schüler immer stehen musste, wenn man mit dem Lehrer sprach. Und ich stand da eine ganze Stunde. Die Lehrerin war wohl perplex. Sie nahm mich ernst und sie ging auf meine Argumente ein. Und weil ich nicht locker lies, erlies sie mir am Ende der Stunde diese Hausarbeit. Das war nicht mein Verdienst. Ohne meine Mutter hätte ich im Leben nicht diskutiert. Ich diskutierte die ganze Zeit allein. Erst zum Schluss, als sich das Blatt wendete, meldete sich ein Mädchen, das ebenfalls begann diese Hausarbeit zu kritisieren. Aber da machte die Lehrerin kurzen Prozeß und entschied nur bei mir eine Ausnahme zu machen, sonst aber keine mehr.
Seit dieser Erfahrung diskutiere ich gerne.
Vom Erfolg war ich nicht ausgegangen. Ich fühlte mich nur verpflichtet dazu.
Was hat die Schüler bewogen, den Mund zu halten, Desinteresse ?
Die Erwachsenen hatten Angst vor den Repressalien. Der ganze Staat DDR strahlte Gewalt und Aggression aus. Die Staatsmacht und die SED präsentierte sich gewaltbereit gegen ihre Bürger.
Und die Bürger taten, was von ihnen verlangt war. Jeder im Aufgang hing am 1. Mai die entsprechende Fahne raus. Da gab es eine Anweisung. Die wurde befolgt. Die Anweisung, wählen zu gehen wurde befolgt. Es fiel den Leuten ungeheuer schwer, sich gegen etwaige staatliche Wünsche zu wehren. Es gab ja immer diese Versammlungen. Da wurde nicht kritisiert. Auch wenn Gelegenheit dazu gegeben worden wäre. Im Unterricht wurde der Sozialismus nicht in Frage gestellt. Er wurde gelobt. Und das ganze wurde dann so weggetan. „Was macht das schon ? Wir wissen doch, dass das nicht stimmt. Also was solls. Ich geb ihnen was die haben wollen. Dann hab ich meine Ruhe und vielleicht eine gute Zensur.“ In der Schule gab es ja tatsächlich schlechte Zensuren auf abweichende Meinungen, obwohl immer so viel von Ehrlichkeit die Rede war, von Persönlichkeit, und dass man immer seine eigene Meinung haben muss, und dass man zu seiner eigenen Meinung stehen muss. Aber wenn sich da mal ein vorsichtiger Zug von eigener Meinung zeigte, dann wurden die Schüler angezeigt, dann gab es schlechte Zensuren. Und so verhielten sich auch die Erwachsenen. Sie hielten nichts vom Sozialismus, aber sie duckten sich weg. Zivilcourage gab es nicht. Widerstandsnester gab es einfach nicht. 2,6 Millionen Menschen waren in der SED. Mehr als eine Million in den Blockparteien. Der FDGB hatte eine Massenbasis von über 90% aller Werktätigen. Die DSF hatte auch Millionen an Mitgliedern. Der Organisationsgrad der Pionierorganisationen lag bei ca. 95 – 96 %. Alle diese Parteien und Massenorganisationen boten ihren Mitgliedern keinerlei Interessenvertretung. Es waren Transmissionsriemen der SED. Willfährigkeitsorganisationen. Disziplinierungseinrichtungen für Ja-Sager. Und trotzdem empfanden sich die Menschen in der DDR nicht als ängstlich. Und wer hier in Ostdeutschland den Begriff von Feigheit in den Mund  nimmt, erntet noch heute Zornesausbrüche und Empörungsorgien. Bis heute gibt es in Ostdeutschland eine kollektive Tabuisierung all der Deformationen, die die SED ihren Bürgern hat angedeihen lassen. Der erzieherischen Liebe eines Mielke konnten sie sich nicht entziehen.
Ein neuer Mensch sollte geformt werden. Die SED wollte das sozialistische Bewusstsein. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Und mit allen Mitteln hat die SED versucht auf die Menschen Einfluss zu nehmen. Sie arbeitete mit Zwang, mit Druck, sie lockte mit kleinen und grossen Privilegien, mit beruflichem Fortkommen, mit einer besseren Wohnung, mit Reisen ins sozialistische und ins nichtsozialistische Ausland. Menschen, denen man alles nimmt, waren schon dankbar, wenn man ihnen kleine Erleichterungen in einen Akt von Großzügigkeit offeriert, obwohl es sich doch um Grundrechte handelt.
Die Menschen haben der SED nicht geglaubt. Sie haben gar nichts mehr geglaubt. Sie wollten etwas vom Leben abhaben. Sie wollten Glück, ein kleines Glück in  Form einer Urlaubsreise, einer größeren Wohnung, etwas mehr Gehalt, ein bisschen Reisen, ganz wenige mal eine Westreise, das war schon ein großes Glück, da musste man schon Reisekader sein, oder Künstler. Sie waren mit wenigem zufrieden. Sie genossen ihre Datsche, ihr Auto, ihre Bratwürste, ihre Multimax, ihre selbstgebauten Möbel, ihr Haus, wenn sie es denn hatten. Sie lernten mit wenigem zufrieden zu sein, und wachten darüber wie über ihren Augapfel. Und sie stellten ihr bescheidenes Vermögen nicht in Frage. Sie versuchten stolz zu sein, auf ihre Leistungen, ihren Beruf, ihre Familie, ihre Qualifikationen. Sie ließen sich das nicht kaputtmachen. Daß das alles nicht sicher war, wollten sie nicht wahrhaben.
Ich musste mich zusammenreißen, diese Menschen nicht allzusehr zu verdammen, obwohl ich dieses Verhalten gehasst habe. Doch Menschen werden nicht so aus eigenem Antrieb. Man muss sie ungewöhnlich hart anpacken, um ihren Drang nach Freiheit zu unterdrücken. Es war das System, das sie deformiert hat, das ihnen ihr Erwachsensein, ihr Mündigsein, ihre politische Selbstständigkeit, ihre Eigenschaft als homo politicus nahm.
Den Menschen in der DDR hat niemand geholfen. Nicht gegen die Russen, nicht gegen die Zwangskollektivierung, nicht gegen den Bau der Mauer, nicht gegen die Verstaatlichungen, nicht gegen die Enteignungen, nicht gegen Vertreibungen, nicht gegen die Zensur, nicht gegen Diskriminierungen, nicht gegen die Armee, nicht gegen vormilitärische Übungen, nicht vor dem politischen Strafrecht, nicht gegen die Bespitzelungen, nicht gegen die Zersetzungen, nicht gegen das Brechen des Briefgeheimnis, nicht gegen Vertrauensbruch, gegen nichts und niemals.
Wer das nicht erlebt hat, der hat leicht reden, ihnen heute ihre Ängstlichkeit vorzuwerfen.
Aber das waren sie, Angsthasen, Anpassungsprodukte. Nicht mal die evangelische Kirche war da eine grosse Hilfe.
Sicher der grosse Dibelius, der hat die Mißstände beim Namen genannt. Und das haben auch viele andere Pfarrer und Bischöfe getan. Nicht alle. Manche haben sich angepasst, manche sind den Kommunisten auf den Leim gegangen wie Bischof Mietzenheim in Thüringen und Gienke in Greiswald. Manche sind von den eigenen Amtsbrüdern eingeschüchtert worden, wie Bischof Fränkel in Görlitz. Fränkel war ein äußerst mutiger Bischof, der in der Kirche den Spitznamen, der „Latzknaller“ hatte. Er hatte irgendwo mal den Satz fallen lassen: „Man muß der roten Bestie eins vor den Latz knallen!“. Er ist dann irgendwann von Amtsbrüdern ins Gebet genommen worden und schwieg seitdem, und hat danach auch nicht mehr lange gelebt.
Andere aber haben real sozialistische Machtpolitik betrieben wie Stolpe und Schönherr. Und dabei ist Stolpe nicht davor zurückgeschreckt, die SED auch christlich zu legitimieren. Er hat ihre Macht anerkannt. Sie war ein Teil seines Weltbildes. Er unterstützte sie nicht nur als IMB (Inoffizieller Mitarbeiter im Besonderen Einsatz).
Und dann gab es natürlich Theologen, die an der deutschen Schuld so litten, dass sie zur Sühne an der Teilung ewig tragen wollten. Die machten das historische Versagen Deutschlands zu einer Quelle ewiger Verdammnis. Und das Leben in einer Diktatur zu einer anzunehmenden gerechten Strafe, die wir Ostdeutschen für alle unsere Landsleute insgesamt zu tragen hatten. Ich hatte immer das Gefühl, dass mit dieser Konstruktion das Leid der totalitären Unterdrückung umgekehrt wurde und zu einer Quelle des Stolzes. So konnte man natürlich auch damit fertig werden. Doch aus einer ursprünglich frohen Botschaft wurde so eine sehr finstere.
Doch wirklich schlimm waren jene Theologen, die in den Weissensee’ern Friedenskreisen mitarbeiteten und in der Christlichen Friedenskonferenz. Das war in der Tat eine fünfte Kolonne Moskaus. Hier unterwarf sich die der christliche Glauben der kommunistischen Ideologie total. Christlich blieb hier nur noch der äußere Ritus, der Talar, die äußere Gottesdienstform, die Vokabeln. Für diese Theologen war der Sozialismus die bessere und gerechtere Gesellschaftsordnung. Und das kommunistische Paradies trat an die Stelle der christlichen Heilserwartung. Diese Leute verkündeten von der Kanzel herab den kommunistischen Glauben, statt die christliche Botschaft von der Vergebung und der Nächstenliebe. Das wusste auch die SED. Von Schabowski ist überliefert, dass er einmal Pfarrer Orphal in der Berliner Marienkirche über die Maßen lobte, weil der Beschlüsse eines  SED-Parteitages von der Kanzel hinweg verkündete.
Die Gemeinden der evangelischen Kirche, auf Grund ihrer demokratischen Grundverfasstheit selbständig und ihre eigentliche Substanz, waren häufig kleinbürgerlich. Sie hatten sich zwar Freiraum erhalten, wie die ganze Kirche, immerhin. Aber im Grunde lagen auch sie an der Leine, wenn die auch länger war.
Immerhin hatte sich der evangelische Glauben einen Ort erhalten, in dem er leben konnte. Er wurde von der SED auf das entschiedenste bekämpft. Doch die SED bemühte sich sehr darum, hier nicht zu überziehen. Ihr saß eine niederschmetternde Erfahrung der frühen 50-ger Jahre im Nacken. Damals hatte die Verfolgung der Mitglieder der Jungen  Gemeinden zu einer Stärkung der christlichen Jugendbewegung geführt, und nicht zu ihrer Vernichtung. Hier ließ sich schon mal die Dialektik der Gewaltlosigkeit studieren. Die Jungen Gemeinden wurden wegen ihres Glaubens verfolgt, ohne das von ihnen selbst irgendeine Gewalt oder Gefahr ausging. Das stärkte ihren Glauben, statt ihn zu schwächen. Die Jungen Gemeinden waren auf diese Weise nicht zu knacken, sie wuchsen, statt zu schrumpfen. Interessanterweise war es Moskau, das Ostberlin anwies, diese Verfolgung zu unterlassen. Daraufhin änderte die SED ihre Strategie und begann die Kirche gezielt mit ihren MfS-Methoden zu unterwandern. Sie nahm konspirativen Einfluss auf Theologie und Politik der Kirchen. Die Namen der IM’s in der ev. Kirche sind ja Legion. Und diese Methode war erfolgreicher, als die offene Unterdrückung. Die Zonen, wo die Menschen für die Kirche nicht mehr erreichbar waren, wurden immer größer. Die Gesellschaft entchristlichte immer mehr. Zum Schluss zählten sich in den Innenstädten noch 8-10 % zur Kirche und auf dem Lande vielleicht 25 %. Diese Werte lagen erheblich unter denen in Westdeutschland, woran man den verheerenden kommunistischen Einfluß gut erkennen kann.
Und es stimmt auch, dass die aufkeimende Oppositionsbewegung in der DDR, einen ganz starken protestantischen Strang hatte. Havemann hatte das vorausgesehen und als ehemaliger Kommunist und bekennender Marxist, der er ja bis zum Schluss geblieben war, Kontakt zur protestantischen Oppositionsbewegung aufgenommen. Ihm schwebte ein gemeinsames Vorgehen linker und christlicher Oppositioneller vor.
Was aber nicht stimmt ist die Metapher vom sogenannten Freiraum, den die Kirche den oppositionellen Friedenskreisen bot. Denn man kann niemanden Raum anbieten, den er schon hat, ja der ihm gehört. Diese christlichen Friedenskreise waren ein Kind des evangelischen Glaubens, des protestantischen Selbstverständnisses. Das besondere daran war, dass sie keinen anderen Herrn über sich duldeten, als ihren Gott; und dass sie den Auftrag der Verantwortung, den man als Christ für die Gesellschaft und die Schöpfung hatte, ernst nahmen und für sich neu und unabhängig interpretierten. Sie nahmen sich nicht die Kirche als besonderen Schutzraum, sondern sie sind hier entstanden, gross und handlungsfähig geworden. Ab einer bestimmten Stelle verliessen sie den Raum der Kirche, weil ihnen klar war, dass sie die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit der SED suchen mussten. Das betraf z.B. die IFM, die „Frauen für den Frieden“ oder auch die SDP. Es betraf auch jenen Kreis um Pfarrer Wonneberger, dessen Friedenskreis in der Leipziger Nikolaikirche  zum Initiator der weltberühmten Montagsdemonstrationen wurde.
Bis dahin war es die Angst, die in der DDR regierte. Und deren Ratschlag die Leute als vernünftig empfanden. Außenseiter waren jene, die versucht haben, ihre Angst abzuschütteln, zu überwinden, die sie nicht einfach hinnahmen, sondern sich daran abgearbeitet haben.
Ich habe erst kürzlich einen Vortrag von Jürgen Fuchs, den dieser in der Humboldt-Universität Anfang der 90-ger Jahr im zeitgeschichtlichen Institut bei Heinrich-August Winkler gehalten hat, von der Angst gelesen, die Fuchs bei den Ostdeutschen in der
Wendezeit diagnostiziert hat, als er gemeinsam mit Wolf Bierman, den er damals begleitete nach 13 Jahren das erstemal wieder in sein Land, die DDR kam. Nirgendwo im ganzen Ostblock, nicht in Prag und nicht in Warschau,  sei er auf soviel Angst gestoßen wie in den Augen der Ostdeutschen.
Ich habe das damals noch nicht so gesehen, wahrscheinlich weil ich sie selber hatte. Ich habe die Wende immer als einen der glücklichsten Umstände in meinem ganzen Leben angesehen, eine Wohltat für geschundene Menschen, als eine Therapie für verletzte Seelen. Und ich finde, wir können zurecht dankbar sein, über den hunderttausendfachen Mut der Ostdeutschen, die damals im Herbst 89 Weltpolitik gemacht haben, und dabei ihre Angst überwunden haben. Aber damit war sie nicht erledigt. Sie saß viel zu tief. Und wie schwer fällt das Werk der Aufarbeitung, der eigenen Geschichte, wenn man auf soviel Verletzungen und auf soviel eigenes Versagen trifft. Versagen ist das ja so lange, bis man den Mut findet darüber zu reden. Es ist ein eigenes grosses Kapital wert, zu erörtern, warum diese Aufarbeitung nicht stattfand, und die Verletzungen wieder verschüttet wurden. Heute ist es schwerer denn je, Mut und Zuversicht zu erzeugen, heute, wo wir keine Angst mehr zu haben bräuchten, wo ganz klar ist, dass die alten Kommunisten so auf keinen Fall mehr an die Macht kommen, wie sie in der DDR regiert haben.
Nein eine neue Diktatur sehe ich nicht, wohl aber eine unerträgliche, fast teuflisch anmutende Geschichtsverlogenheit bei der Partei der Linken. Ich sehe Demokraten, die ihnen intellektuell nicht gewachsen sind, und auf den Leim gehen, teils, weil sie um der Macht willen, nicht denken wollen, teils nicht denken können, weil in ihnen die alte Unterordnung unter die ordnenden Hände der SED noch immer lebendig ist.
Nein unsere Vergangenheit ist noch lange nicht bewältigt. Sie ist noch nicht einmal verstanden worden. Die Gespenster von gestern sind unter uns, und das, was an Verheissung in dem schönen Satz unserer Verfassung „Die Würde des einzelnen ist unverletzlich“ steckt, kann sich angesichts der Mutlosigkeit und Tristess, angesichts der unerkannten Vergangenheit nicht erfüllen.
Wir könnten heute so stolz sein in Ostdeutschland, ja in ganz Deutschland, über eine friedliche Revolution, in welcher das Volk seine Peiniger ins politische Aus geschickt hat, die für unser Land die Wiedervereinigung gebracht hat, die den Kalten Krieg beendet hat, und die in die friedlichste Epoche Deutschlands und Europas eingemündet ist. Wir könnten angesichts dieser Leistungen gelassen und optimistisch in die Zukunft sehen. Wir könnten den Mut der Menschen preisen, und die Kraft der Freiheit, die sich niemals unterdrücken lässt. Aber diese Lieder werden bei uns nicht gesungen.
Wir singen tragische und Trauergesänge, über verlorene ostdeutsche Identitäten, über Marktliberalismus und den entfesselten Kapitalismus, über Entsolidarisierungen und den Untergang des Sozialstaates. Über westdeutsche Arroganz und regionale Auszehrungen. Wo ist der Optimismus der Wendezeit hin, der Mut, die Kraft, die Zuversicht? War das nur eine Eintagsfliege ?
Ich höre immer wieder, die Politik sei schuld. Sie würde die Menschen im Regen stehen lassen, sie würde lügen. Das sagen selbst Jugendliche, die die DDR gar nicht erlebt haben. Neulich redete ich mit einer Jugendlichen aus meinem ehemaligen Wahlkreis, die angesprochen auf Politik, antwortete, „Dafür  interessiere ich mich nicht!“ Und ihr Nachbar ergänzte, daran sei diese ostdeutsche Kanzlerin schuld. Das könnte lustig sein, ist aber im Kern tragisch.
Die Kanzlerin mag ja für vieles verantwortlich sein. Aber das Demokratie eine Sache jedes einzelnen ist, eine Angelegenheit gewollter, unaufgebbarer Verantwortung für mehr als nur die eigenen, privaten Angelegenheiten, dass das Einmischen in die öffentlichen Angelegenheiten etwas mit ureigensten persönlichen Interessen zu tun hat, eine solche Erkenntnis und so ein Bekenntnis könnte einem auch die Kanzlerin nicht nehmen. Nein das Problem ist, dass diese Jugendlichen solche Mündigkeit und Verantwortung (noch ?) nicht wollen. Dafür mag es viele Gründe geben. Es kann mit ihren Eltern, mit ihrer Schule zusammenhängen, es kann durch die Wahrnahme der gegenwärtigen Politik begünstigt werden, durch Bürokratie, schwarze Peter Spiele, durch Brüssel.
Erkennbar ist ein Wegschieben der Verantwortung, ein nicht Wahrhabenwollen, Verleugnen eigener Verantwortung. Damit einher geht eine freiwillige Unterordnung unter politische Verhältnisse, über die man dann nach Herzenslust schimpfen kann. Das sind vordemokratische Verhaltensweisen. Das ist das geistige Erbe unserer zweiten Deutschen Diktatur.
Die erste hat ja auch eine Riesenwüste und Zerstörung hinterlassen, aber die ist von den Deutschen wenigstens angenommen und aufgearbeitet worden. Besser gesagt, die Erkenntnis, dass diese Vergangenheit niemals tot sein wird, sondern eine dauernde Herausforderung für uns bleibt, hat sich im wesentlichen durchgesetzt. Aber die DDR wird  verharmlost, als ob sie nur eine Fußnote deutscher Geschichte gewesen wäre. Es heisst, sie sei kein Unrechtsstaat gewesen, totalitär dürfe man sie nicht nennen, wirkliche Opfer hätte nur der Nationalsozialismus produziert, usw. usf..
Was ist hier eigentlich los ? Ich habe immer die Hoffnung gehabt, dass die friedliche Revolution 89/90 für ganz Deutschland eine große Entlastung darstellt, und sie uns allen ermöglicht, mit Mut und Tatkraft an die Bewältigung der neuen Herausforderungen zu gehen. Ich hatte die Hoffnung, dass das Ende des Kommunismus dem liberalen, kritischen Bürgertum die Augen öffnet über den tatsächlichen Charakter dieser 2. Deutschen Diktatur. Dass kommunistische Träumereien für immer beendet sind, dass sie ein Fehler waren, und dass die Demokratie in Deutschland gestärkt wird. Vor allem aber hoffte ich, dass Teile des kritischen, linken, und linksliberalen Bürgertums ihre Verharmlosung der SED-Diktatur aufgeben würden. Und dass meine Partei, die SPD offen zugeben könnte, dass ihre 2. Phase der Entspannungspolitik, jener Wandel durch Annäherung zu Oppositionszeiten, also nach dem Verlust der Regierungsverantwortung 1982 auf falschen Prämissen beruhte. Noch stärker könnte man das für die Grünen einfordern, die ja noch viel einseitiger den Westen für das Wettrüsten verantwortlich machten, und den Kommunismus den Ostdeutschen überließen. Doch sie spielten lange nicht eine so grosse Rolle wie die Sozialdemokraten.
Aber auch die konservativen politischen Kräfte der alten Bundesrepublik, insbesondere die CDU und die FDP sind in Bezug auf die DDR keine Waisenknaben. Hätten sie sonst den ehemaligen Blockparteien gestattet, so verlogen mit ihrer Geschichte umzugehen, und den Blockparteien CDU und LDPD, dem DBD  und der NDPD, also den Helfershelfern der SED den sicheren Hafen der grossen demokratischen Parteien FDP und CDU geboten? Und das musste der SED helfen, ihr Überleben zu organisieren.
Haben unsere demokratischen Parteien wirklich so wenig verstanden, worum es bei der Demokratie eigentlich geht ?
Sie hat auch etwas mit Glaubwürdigkeit, mit Ehrlichkeit, ja mit Gewissen zu tun.
Der Umgang aber mit der Geschichte der DDR heute ist gewissenlos.
Was soll das, heute Versöhnung mit den Stasizuträgern von gestern einzufordern ? Wem nützen diese Koalitionen mit der ehemaligen SED, ganz gleich ob die PDS oder Linkspartei heisst ? Wem nützt es, wenn der Blick auf den Unrechtscharakter der SED verwässert wird ? Wem nützt es, wenn heute kaum ein Jugendlicher weiss, wer die Mauer gebaut hat, und dass der Kommunismus bankrott gegangen ist. Wem nützt die Ostalgie, um wem nützen die Ressentiments gegen die Wessis in Ostdeutschland.
Dieses Deutschland hat nicht verstanden, was diese SED-Diktatur bedeutet hat, und deshalb hat es auch nicht verstanden, wie tief der historische Einschnitt, der Epochenwechsel von 89/90 war.
Im Statut der SDP steht jener bis heutige gültige Satz, ein  Credo jedes demokratischen Handelns: „In tiefer Ablehnung jeglichen totalitären Denkens und Handelns, gründen wir die sozialdemokratische Partei in der DDR.“ Dieser Satz steht dort wir in Stein gemeißelt. Er ist nicht mehr wegzuwischen. Er benennt das Problem des 20.Jahrhdunerts und der Moderne.
An diesem Satz kann man auch die Sprache des Hegelianers Gutzeit studieren. Dem Handeln geht das Denken voraus, „Denken ist Handeln“ sagt Hegel. Das ist noch mehr.
Deshalb ist nicht nur totalitäres Handeln verwerflich, schon auf der geistigen Ebene muss man sich mit dieser Art Denken auseinandersetzen, weil das sonst unweigerlich zu schlimmen Taten führt.
Die Kommunisten haben eine Diktatur gegründet und gewollt, weil sie die Moderne nicht wollten. Sie wollten keine Freiheiten für jedermann, sie wollten keine individuelle Emanzipation, sie wollten keine bürgerliche Gesellschaft. Sie meinten, sie hätten etwas besseres, aber sie beantworteten die Debatten der Moderne mit dem Sturz in die Vormoderne. Die DDR war eine vormoderne deutsche Diktatur. Ihr Wesen bestand in der Ablehnung der spezifisch westlichen Individualisierung. Die Kommunisten sahen in diesem Prozeß die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels begriffen: Krieg, soziale Spaltung, Entrechtung, Erniedrigung, Unterdrückung, . Es kam ihnen zupass, dass die Moderne neben dem grossen wirtschaftlichen, kulturellen, technologischen und sozialen Fortschritt genau auch solche Entartungen produzierte.
Hinzu kam etwas anderes: ein grenzenloser Machtwille. Ideologisch begründet, weil es um nicht mehr, als um die Lösung aller Menschheitsfragen ging, um das Ende der Geschichte sozusagen.
Das Weltbild der Kommunisten war ein geschlossenes. Es lies anderen Sichtweisen keinen Platz. Es hatte für alles schon eine Antwort. Das machte die Sache einfach – und fatal.
Dieses Weltbild definierte die Menschen über ihren sozialen Stand, und teilte sie ein in Gut und Böse, in brauchbar und unbrauchbar, in wertvoll, nützlich, überflüssig. Und das fatale war, dass diese Art des Denkens auf die Meinung der Betroffenen selbst gar keinen Wert mehr legte. Es  wies ihm Wert und Unwert einfach zu. Welche Meinung der Betroffene selber dazu hatte, spielte überhaupt keine Rolle mehr, hatte auf die Weltgeschichte keinen Einfluss mehr.
Die fatale Idee von der Diktatur des Proletariats zerbrach die Schranken des Anstands und des menschlichen Umgangs miteinander, die in unserer Zivilisation durch Begriffe der menschlichen Würde, oder auch der göttlichen Schöpfung und der christlichen Nächstenliebe geschaffen wurden. Schon in der Ideologie der Kommunisten legitimierte sie Zwangsmaßnahmen gegen andersdenkende, anderseiende. Sie öffnete die Tür für unbeschränkte Machtgelüste. Die Idee, politisch den Kommunismus nicht anders als durch eine Diktatur durchsetzen zu können, legitimierte das Bedürfnis nach der Außerkraftsetzung von Grundrechten, ja nach der Herrschaft über Leben und Tod. Die Kommunisten spielten sich schon in ihrem Denken zum Weltenrichter auf. Ihr Streben nach Macht feierte schon Orgien, da hatten sie noch gar keine.
Das war das wahre Gesicht dieser politischen Strömung.
Es war erkennbar lange bevor es kommunistische Staaten gab.
Das gilt im übrigen auch für die nationalsozialistische Ideologie. An ihrem Denken, ihrem Antisemitismus, ihrer Gewaltverherrlichung, ihren Kriegsgelüsten, ihrem Hass, war ihr totalitäres Denken zu erkennen, bevor die Nazis die Regierungsgewalt erhielten.
Im ihrem Wesen, ihrem Machtverständnis, ihrer Verachtung von andersdenkenden, ihrer übermenschlichen politischen Zielvorstellungen waren sich die Nationalsozialisten und die Kommunisten gleich, nicht in ihren Farben. Dass sie sich bekämpft haben, hängt mit ihrem ideologischen Konstrukten zusammen. Diese waren unvereinbar. Dennoch spricht Wassilij Grossmann in seinem Buch „Macht und Schicksal“ von einem möglichen Zusammengehen beider Diktatoren Stalin und Hitler, welche zusammen unbesiegbar gewesen wären. Das ist uns Gott sei Dank erspart geblieben. Unmöglich war es nicht, wie ja der Hitler-Stalin-Pakt gezeigt hat.
Beide totalitären Denkrichtungen hatten eine gemeinsame Wurzel, das war die Ablehnung der Moderne. Sie wollten keine Demokratie, keine individuelle Freiheit. Dies war ihr eigentlicher Gegner. Und deshalb haben auch NSdAP und KPD gemeinsam am Untergang der Weimarer Republik gearbeitet.
Ich hatte in der DDR immer das Gefühl, dass die Kommunisten nichts so sehr hassen, wie die bürgerliche Gesellschaft. Das aber ist die westliche, offene, moderne, kreative, innovative Gesellschaft, mit Fehlern und Tadel, mit Verwerfungen und Widersprüchen, für die man ein politisches Rezept finden muss, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten, will man den Segen von Kreativität und Innovation für alle nutzbar machen.
Doch Freiheit für alle nutzbar machen wollten weder Kommunisten noch Nationalsozialisten. Sie hatten ein anderes Ziel. Sie wollten Macht, absolute Macht, vor der seit der Aufklärung, ja seit den Entwicklungen des Absolutismus führende Juristen und Philosophen immer wieder gewarnt hatten.
Mit der Moderne klar zu kommen ist schwierig, aber sie abzuschaffen, ist mörderisch.
Von Hitler haben uns die Alliierten 1945 befreit. Vom Kommunismus haben wir uns selbst befreit.
1989 haben die Völker Ost- und Mitteleuropas endgültig ihren  totalitären Beherrschern und Machtzynikern das Handwerk gelegt. Aus freien Stücken. Sie haben die kommunistische Geisel aus Europa verbannt. Sie haben ihre Angst überwunden. Sie haben einem der schlimmsten Angriffe auf die menschliche Würde, auf die Demokratie, auf die offene Gesellschaft ein Ende bereitet. 1989 ist nicht nur das Ende des Kommunismus in Europa. Es ist das Ende der totalitären Diktaturen im Europa des 20.Jahrhunderts. Es könnte das Ende der Ideologie sein.
Das macht die Bedeutung dieses Epochewechsels aus.
Doch totalitäres Verhalten ist nicht nur eine Frage der Herrschaftsmethoden. Es ist auch eine Frage der Akzeptanz, der Hinnahme, der Anpassung. Und damit sind wir wieder bei der Angst.
Man kann heute denjenigen Menschen, die Widerstand gewagt und praktiziert haben nicht dankbar genug sein, weil sie die Hoffnung über die Macht gesetzt haben, weil sie den Glauben an die menschliche Würde nie aufgegeben haben, weil sie die Vision einer demokratischen Gesellschaft wach gehalten haben, weil sie totalitäre Machtansprüche nicht akzeptiert haben, weil sie sich nicht untergeordnet haben. Es reicht nicht aus, nur zu wissen, dass die Ideologie der Kommunisten wirre war, dass sie voller Widersprüche, dass sie unrealisierbar war. Zum citoyen, zum mündigen, reifen und erwachsenen Bürger gehört hinzu, dass er diese Machtansprüche nicht hinnimmt, sondern bekämpft.
Eine solche Tradition ist in Deutschland nach wie vor nur sehr schwach vorhanden.
Ich weiss nicht, wie man den Menschen die Angst nehmen kann. Wahrscheinlich indem man bei sich selber anfängt, und sich einräumt, wieviel man eigentlich davon hatte, und wieviel noch immer vorhanden ist.
Wichtig ist, dass wir uns unser Grenzen bewusst werden. Fundamentalistisches, totalitäres und sektiererisches Denken kann auf dem unterschiedlichstem Nährboden immer wieder neu entstehen. In dem, was wir Menschen denken und wollen sind wir frei und selbstbestimmt. Aber in dem, was wir wollen dürfen, gibt es Grenzen. An den Machtgelüsten, am Respekt unseres Nachbarn und Nächsten scheiden sich die Geister. An den Geschichtslügen über die DDR auch, weil hier Vertuschung politischer Verbrechen am Werke ist.
Doch wirklich frei wird unsere Gesellschaft erst sein, wenn sie erkennt, wie stolz sie auf unsere Freiheit, unsere Demokratie, auf offenen Diskurs, öffentliche Debatten, eigene Meinungen, auf Meinungsvielfalt und Kreativität sein kann und sie zu nutzen versteht.