Europäische Erfahrungen mit Menschenrechten und demokratischer Wandel

Vortrag Hans-Seidel-Stiftung in Seoul (Südkorea) am 20.3.12

 

Sie haben mich aus dem fernen Deutschland eingeladen, um hier in Korea, zu einem Thema zu referieren, dass für mich zu einer politischen Existenzfrage geworden ist. Denn ich glaube, dass demokratische Gesellschaften am besten in der Lage sind, die Freiheit und Selbstverantwortung ihrer Bürger zu garantieren. Und dass sie deshalb die großen Herausforderungen unserer Zeit: Klimawandel, Globalisierung, menschenwürdiges Leben und Frieden am besten meistern können.

Und natürlich freue ich mich, über meine spezifischen ostdeutschen Erfahrungen bei der Überwindung unserer kommunistischen Diktatur, der zweiten Diktatur auf deutschem Boden referieren zu dürfen.

Dabei habe ich die Ehre, insbesondere die europäischen Erfahrungen mit den Menschenrechten im Zusammenhang mit dem demokratischen Wandel zu betrachten.

Das ist eine spannende Aufgabe, nicht weil Europa die Entwicklung der Menschenrechte beanspruchen dürfte, sondern weil mein Kontinent an der Entwicklung der Menschenrechte gewachsen ist.

Die Menschenrechte waren ein Motor der Emanzipation. Zuerst nur als Schutzrechte gegenüber dem Staat gedacht, gegen Fürsten und mittelalterlicher Kirche, sind sie heute zu einem immateriellen Besitzstand geworden, ja Teil unserer individuellen Identität und Persönlichkeit. Es mag nicht jedem Europäer bewusst sein, doch die Menschenrechte sind heute die Grundlage für Selbstentfaltung, Kreativität, Freiheit und Innovation. Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil unserer europäischen Freiheitsgeschichte, die allerdings auch Fallen offenbart hat, die nicht nur in Europa zu apokalyptischen Zuständen führten. Heute sieht es so aus, als könnten diese Zustände in Europa als überwunden angesehen werden. Heute gehören die Menschenrechte zum unangefochtenen demokratischen Rechtsstaat.

Menschenrechte erlauben dem einzelnen Bürger sich als gleichberechtigt mit allen seinen Mitbürgern betrachten zu können, unabhängig von deren sozialen, kulturellen, materiellen oder religiösen Status. Darüber hinaus erlauben sie das eigene Land lieben zu können, ohne sich als Eigentum desselben verstehen zu müssen. Die Kommunisten hingegen hatten eine vollständige Identifikation mit ihrer kommunistischen Sache verlangt. Selbständige, individuelle Prägungen waren in ihren Augen gesellschaftliche Fremdkörper, die sie ausmerzen durften.

Grund- und Menschenrechte hingegen erlauben den Bürgern, sich als eigene, selbstbestimmte Subjekte zu begreifen, deren Rechte gegenüber dem Staat in Gesetzen verbrieft sind und vom Staat garantiert werden.

Menschenrechte sind kein Gnadenakt irgendeiner politischen oder religiösen Autorität. Sie sind philosophisch, kulturell und religiös begründet, und darüber hinaus heute auch psychologisch begründbar.

Denn sicherlich sind wir als soziale Wesen unseren Mitmenschen auf vielfältige Weise verbunden, aber wir gehören ihnen nicht. Gerade unsere Individualität macht eine Gesellschaft reich und damit lebensfähig. Und so garantieren die Menschenrechte sowohl die individuelle Freiheit, als auch die Agilität unserer modernen Gesellschaften.

Dies war in unserer langen Geschichte keineswegs selbstverständlich. Die Freiheit der Religion hat viel Blut gekostet. Die Freiheit der Wissenschaften endete nicht selten auf dem Scheiterhaufen. Kein König hat gerne seine Macht mit seinen Untertanen geteilt. Nein, Weisheit und Weitsicht alleine haben nicht genügt, um die Menschenrechte durchzusetzen. Manchmal brauchte es Revolutionen dafür. Doch manch eine Revolution war ein apokalyptischer Rückschritt, wie die faschistische Revolution in Italien oder Hitlers Machtergreifung in Deutschland. Und wie sollen wir die Lenin'sche Revolution in Russland begreifen, deren Folgen ja bis hierher nach Korea noch immer reichen? Ein Segen für die Menschheit war das nicht. Das gilt, historisch gesehen nicht für die Große Französischen Revolution 1789, und auch nicht für die bürgerlichen Revolutionen 1848/49 in fast allen Teilen Europas.

Die Menschen, die hier auf den Barrikaden standen, waren entflammt von der Hoffnung auf Freiheit, aber auch der Abschaffung von Ungerechtigkeit, sozialen Missständen, von Ausbeutung und bitterer materieller Not.

Demokratie war ein Zauberwort. Aber für die Vertreter des absolutistischen Staates, von Erbmonarchien und politischen Privilegien gab es keine größere Kampfansage. Der Deutsche Kaiser Wilhelm der Zweite, der Deutschland in den vielleicht vermeidbaren ersten Weltkrieg geführt hat, verachtete sein demokratisch gewähltes Parlament, das im Vergleich zu heute weit weniger Rechte hatte. Noch Ende des 19. Jahrhunderts bezog Wilhelm der Zweite seine Autorität aus seinem Gottesbegriff selbst. Mit seinem Gottesgnadentum war gemeint, dass seine Herrschaft sich aus Gottes Gnade unmittelbar herleitete. Demokratische Legitimation widersprach dem natürlich zutiefst, ja war geradezu eine Beleidigung für sein Selbstverständnis.

Vielleicht hätte Wilhelm der Zweite mal Immanuel Kant lesen sollen, den Königsberger Philosophen der Aufklärung. Der hatte schon im 18. Jahrhundert philosophisch begründet, dass wir Menschen grundsätzlich zu vernünftigem Handeln in der Lage sind, alleine auf Grund unserer verstandesmäßigen Fähigkeiten. Die Religion war der Vernunft zwar nicht hinderlich, aber auch keine ihrer Vorbedingungen. Diese Erkenntnis war Salzsäure für die autoritären und absolutistischen Staaten Europas, deren Selbstverständnis sich vom Prinzip, dass Macht gleich Recht ist, ableitete. Seit Kant aber galt es unter den Aufklärern von damals als gesichert, dass rein demokratisch legitimierte Staaten, die es damals noch gar nicht gab, ihre Geschicke nicht nur ohne König und Kirche, sondern auch besser und friedlicher als Erbmonarchien leiten könnten.

Ich betone diese Episode deshalb, weil ich glaube, dass der demokratische Wandel in Europa keinesfalls eine Entwicklung war, die gewissermaßen auf der Straße staatfand. Sicher die Straße gehört den Demonstranten. Und in revolutionären Zeiten liegt dort auch die Macht. Aber die Vorentwicklungen, die unverzichtbar, intellektuell und schwierig sind, finden in den Köpfen statt, in unseren Vorstellungen von Politik und Gesellschaft. Und sie sind mindestens so wichtig, wie der Kampf auf den Barrikaden.

Und so ist der moderne demokratische Rechtsstaat, für den die Würde seiner Bürger und die Wahrung ihrer Rechte zu den vornehmsten Aufgaben gehören, ein Produkt der Entwicklung einer politische Kultur der Freiheit und des Rechts, und der Zivilcourage seiner Bürger.

Diese Entwicklung ist keineswegs abgeschlossen. Heute entwickelt sich der moderne Rechtsstaat immer mehr hin zu einem Dienstleister für die Gesellschaft, deren Freiheit und Toleranz zu schützen ist, die aber gleichwohl staatliche Institutionen für ihre Selbstorganisation benötigt. Denn, so sagt Hegel: „Regiert werden muss!“

Wer sich ein bisschen mit der Geschichte der Rechtsentwicklung in Europa auskennt, weiß, dass die Tradition der Menschenrechte deutlich älter ist, als der demokratische Wandel. Sie sind nicht der einzige, wohl aber ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Demokratieentwicklung. Zu ihren weiteren Vorbedingungen gehören die bereits erwähnte Philosophie der Aufklärung, der Kampf um die Religionsfreiheit und die Etablierung des Bürgertums, ohne dessen Fähigkeiten und Bildung kein Staat mehr zu machen war.

Und nur in diesem Zusammenhang konnten die Menschenrechte ihre Kraft entfalten. Sie waren sowohl Mittel zum Zweck – nämlich der Emanzipation des Bürgertums, als auch ein Eckstein ihres Selbstverständnisses.

Doch die Menschenrechte alleine hätten nicht genügt, um den demokratischen Wandel zu bewerkstelligen.

Und so sind sie auch nicht in den katastrophalen Strudel der verhängnisvollen Irrtümer der europäischen Freiheitsgeschichte hineingeraten. Diese Irrtümer sind schon aufgetaucht in den Gräueltaten der Großen Französischen Revolution, Ende des 18.Jahrhunderts. Doch verglichen mit Hitler und Stalin sind sie nicht mehr als Jugendsünden. Die Geschichte der Freiheit ist mit Fallen gepflastert. Ich weiß nicht, warum das so ist. Vielleicht will sie es uns nicht einfach machen. Vielleicht will sie uns sagen, dass der Preis für Freiheit harte Arbeit ist. Wahrscheinlich aber hat es mit unserer komplexen gesellschaftlichen Realität zu tun. Die Muss man erst mal verstehen, wenn man voreilige Schlüsse fürs politische Handeln und negative Folgen vermeiden will.

Die Hauptgefahr für den weiteren demokratischen Wandel im 20. Jahrhundert war das totalitäre Denken, das im Kern die errungenen Freiheitsrechte wieder kassierte. Jenseits der verschiedenen Gesichter der beiden Ideologien Faschismus und Kommunismus ergab sich ihre Kraft aus Heils-Versprechen mittels einfacher und dauerhafter Lösungen für gesellschaftliche Grundkonflikte, wie der sozialen Frage, oder der Güterteilung. Und beide Ideologien errichteten eine neue Weltanschauung, die mit ihrer Welterklärungen andere politische und religiöse Selbstverständnisse für überflüssig, ja verbrecherisch erklärten. Faktisch aber war die neue Weltanschauung dieser beiden Ideologien selber eine Religion, die „Andersgläubige“ erbarmungslos verfolgte. Und diesen totalitären Weltanschauungen waren die Menschenrechte im Weg. Deshalb haben die totalitären Herrscher, die Menschenrechte außer Kraft gesetzt. Man kann also sagen, dass diese Diktaturen ein Rückfall in die Vormoderne, ins Mittelalter darstellen. Dass sie dennoch so viel politische Kraft entfalten konnten, hängt damit zusammen, dass sie Patent-Lösungen für politische Probleme zu beinhalten schienen, die den Menschen verlockend, einfach und schön erschienen. So wollten die Nationalsozialisten das durch den Versailler Vertrag gedemütigte Deutschland zu einer Supermacht machen, und die Kommunisten wollten die soziale Ungerechtigkeit und den Krieg aus der Weltgeschichte tilgen. Beides waren reine Propaganda-Versprechungen, die weder gehalten werden konnten, noch sollten. Sie hatten nur die Aufgabe, die Massen an die Ideologie zu knüpfen. Und das gelang mehr oder weniger stark. Der totalitäre Machtanspruch, dem keine Institution heilig war brachte in beiden Systemen faktisch die ganze Gesellschaft in seinen Besitz. Er war kalt, zynisch, verlogen und mörderisch. Ihn zu bestreiten und zu überwinden gehörte zu den großen Aufgaben in Europa des letzten Jahrhunderts.

Und das war die Aufgabe, die sich im Kern der Opposition in meinem Land, der DDR, dem ostdeutschen Teilstaat nach dem zweiten Weltkrieg stellte.

Man kann diese Herausforderung auch so formulieren, dass es darum ging die Menschenrechte wieder in Kraft zu setzen. Doch war das nur leistbar durch ein politisches Gesamtkonzept, das anknüpfte an die weiteren westlichen Entwicklungen der Demokratie, mit ihrem fortgeschrittenem demokratischen Rechtsstaat, prosperierender Wirtschaft mit hohem Lebensstandard und hohen sozialen Standards. Dem hatte 1989die SED, das war die kommunistische Staatspartei in der DDR, nichts mehr entgegenzusetzen.

Und man muss sagen, dass die Voraussetzungen für das Ende der zweiten deutschen Diktatur letztlich in der Krise des Kommunismus selber lagen. Ein Freund von mir sagte dazu: „Die Kommunisten haben Harakiri begangen!“ Das mag stimmen. Wahr ist aber auch, dass die Krise der Kommunisten unvermeidlich war. Und es kam für die Opposition darauf an, diese Krise zu nutzen.

Doch die Opposition in der DDR war so vielgestaltig wie der Weg der Emanzipation selbst. Was sie einte, war die Ablehnung der konkreten Ausformung des kommunistischen Systems, des hier praktizierten Unrechts und dem Willen zum politischen Widerstand. Das war zu wenig für eine Klammer zielgerichteten politischen Handelns. Hierbei erwiesen sich die Menschenrechte hilfreich als der kleinste gemeinsame Nenner, um auf ihrer Grundlage politische Aktionen organisieren zu können. Eine oppositionelle Gruppe, die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) benannte sich sogar nach ihnen.

Richtig erfolgreich waren aber erst jene Bemühungen innerhalb der Opposition, die sich klar zu den westlichen Prinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, sozialer Marktwirtschaft und einer repräsentativen Demokratie mit einem demokratischen Parteienspektrum bekannten. Davon gab es nur wenige. Ich hatte die Freude und die Ehre, zur SDP (Sozialdemokratische Partei in der DDR) zu gehören, zu deren Gründung ich hinzustieß und hier ihr erster Sprecher wurde.

Das Konzept der SDP bestand in einer lupenreinen westlichen Demokratie, sozial und ökologisch ausgerichtet. Die politischen Ziele, die wir vertraten, fanden zunehmend mehr Anhänger. Die SDP griff die bis dahin regierende SED auch von ihren ideologischen Grundlagen her an, wogegen sich die SED nicht mehr wehren konnte.

Das sozialdemokratische Konzept schloss selbstverständlich die Anerkennung der Menschenrechte mit ein. Doch das Bedürfnis nach wirtschaftlicher Prosperität, Erhöhung des Lebensstandards, Entmachtung der SED, Errichtung eines demokratischen Rechtsstaates war deutlich mehr als die Garantie der Menschenrechte alleine.

Die Menschenrechte hatten einen guten Klang. Für die notwendige Massenmobilisierung waren sie leider zu wenig. Immerhin gelang es den oppositionellen Gruppen mit ihren öffentlichen Aktionen dem damals herrschenden Überdruss gegen die SED-Diktatur ein Podium zu geben, und so die Massenproteste, die schließlich in die friedliche Revolution 1989 mündeten auszulösen. Doch spätestens jetzt waren ganzheitliche politische Konzepte gefragt. Nur mit ihrer Hilfe gelang es, die Niederlage der SED zu besiegeln.

Zusammenfassend ist zu sagen: die Menschenrechtsfrage diente zur Herausbildung politischer Widerstandsformen, war ein Mittel um der Öffentlichkeit die Verlogenheit der totalitären Diktatur zu verdeutlichen, und ein Schritt auf dem Weg zu durchschlagenderen Formen der politischen Opposition.

Ich tue mich schwer damit, diese Erfahrungen einfach so auf Korea zu übertragen. Dies ist ein anderer Erdteil, Sie haben hier ihre ganz eigene politische Kultur, und eigene Traditionen.

Gleichzeitig herrschen in Nordkorea immer noch die Kommunisten, die ich in der DDR zur Genüge kennen gelernt habe. Doch die Erfahrung lehrt mich, dass der Kommunismus alleine nicht die Kraft zur Herrschaftsübernahme gehabt hätte, wenn er sich nicht mit spezifischen Landestraditionen verbunden hätte. Was also ist der Grund für die Kraft, die der Kommunismus hier in Korea entwickelt hat, und woran liegt es, dass der Widerstand in Nordkorea selbst offenbar so verschwindend gering ist, wie er scheint? Nach allem was ich weiß, leiden die Menschen in Nordkorea bittere Not, gibt es immer wieder Hungersnöte. Und die augenscheinlichen Massenhysterien anlässlich des Todes von Kim Yong Il, zeigen, dass die Rituale des Personenkults, die für totalitäre Systeme so typisch sind, noch immer funktionieren. Doch dürfen sie nicht als Beleg einer Zustimmung zur kommunistischen Partei gesehen werden.

Eine der entscheidenden Katalysatoren für die Abnabelung der Ostdeutschen von ihrem Staat war die westdeutsche Politik der menschlichen Erleichterungen. Sie ermöglichte Verwandtenbesuche in größerem Umfang. Und durch bloße Inaugenscheinnahme des westlichen Systems wurde die Propaganda der SED gegen den Westen marginalisiert.

Meine Erfahrung sagt mir, dass auf ein Entgegenkommen der Kommunisten nicht zu rechnen ist. Sie werden nur weicher, wenn sie sich dazu gezwungen fühlen. Und sie sind misstrauisch wie eine alte Katze, gegen jede Form der Umarmung des Westens.

Deshalb macht es auch keinen Sinn, ihnen Straffreiheit für ihre Verbrechen zu versprechen.

Im Gegenteil.

Zum demokratischen Wandel, zu einem Rechtsstaat gehört auch, über die konkrete Verantwortung für politisches Unrecht zu sprechen.

Verantwortung ist zumessbar. Und sie muss dereinst zugemessen werden. Nicht das System ist schuld an allem, oder ein Führer, sondern jeder trägt an seinem individuellen Anteil für das staatliche und politische Unrecht auch individuell.

Eines der Erfolgsgeheimnisse der friedlichen Revolution 1989/90 war ihre Gewaltlosigkeit. Es gab keine Lynchjustiz. Die Gewaltlosigkeit der Revolution maß den Tätern der Diktatur eine Würde zu, die diese dem Volk abgesprochen hatten. Aber Menschenrechte sind unteilbar.

Für uns war das rechtsstaatliche Herangehen an die Verbrechen der Diktatur ein wesentlicher Bestandteil unserer Demokratisierungsvorstellungen. Deshalb kam eine sogenannte revolutionäre Justiz grundsätzlich nicht in Frage. Wir wollten rechtsstaatliche Verfahren, aber keine Rache.

Und rechtsstaatliche Verfahren und Urteile bedeuten Strafe, und keine Klassenjustiz, wie uns von den Altkadern der SED vorgeworfen wurde.

Leider ist der Rechtsstaat bei der justiziellen Aufarbeitung hinter seinen Möglichkeiten geblieben.

Gleichwohl hat es eine Reihe bemerkenswerter Urteile gegeben wie im Mauerschützenprozeß oder im Politibüroprozeß.

Noch wichtiger waren die Rehabilitierungen, auch gerichtlichen Aufhebungen von Unrechtsurteilen, weil sie den Opfern ihre Würde wieder zurückgegeben haben. Sie haben ihre Ehre wiederhergestellt. Das ist auch in Deutschland des 21. Jahrhunderts eine wichtige Sache.

Sie werden auch in Korea dereinst vor der Frage der Aufarbeitung der Teilungsgeschichte Ihres Landes, der Geschichte der nordkoreanischen Diktatur stehen. Aufarbeitung ist unvermeidlich, denn die Anfragen an die Geschichte kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Mit Vergessen und Verdrängen können die Wunden der Vergangenheit nicht geheilt werden.

Aufarbeitung ist immer auch ein zutiefst individueller Prozess. Er gelingt dann, wenn die politischen Hintergründe für die Entstehung der Diktatur und ihrer Stabilität aufgedeckt und benannt werden, wenn individuelle Schuld klar herausgearbeitet wird, und wenn man auf die Benennung von Sündenböcken verzichtet, wenn man sich auch zu seiner eigenen Schuld bekennen kann, und wenn auch die Rahmenbedingungen, in welchen die Menschen schuldig wurden, benannt werden.

Schuld steht zwischen den Menschen. Entschuldigungen helfen den Opfern. Aufarbeitung hilft den Opfern zu ihrer Würde zurück. Und sie ermöglicht den ehemaligen Tätern Einsicht und Umkehr.

Aufarbeitung und Aufklärung aber gehen Hand in Hand. Wir haben in Ostdeutschland ausgezeichnete Erfahrungen mit der Öffnung der Akten des Staatssicherheitsdienstes der SED gemacht. Die Entdeckungen, die z.T. bis heute gemacht werden waren spektakulär, doch sie waren immer auch heilsam.

Politische Aufarbeitung bemüht sich um Antworten, Diktaturen und Unrecht in Zukunft zu vermeiden, indem nach den Ursachen für eine Diktatur in den geistigen Traditionen eines Landes und in den Werten der Menschen gesucht wird. Sie dient dem Verständnis einer Diktatur und ist deshalb unverzichtbar.

Aus diesen Gründen rate ich von dem Versuch unter die Vergangenheit einen Schlussstrich zu ziehen ab.

Ein mathematisches Koordinatensystem hat einen Nullpunkt. Auf unserer Uhr gibt es die Stunde Null. Doch für eine Gesellschaft existiert sie nicht. Eine Gesellschaft kann nicht bei der Stunde Null neu anfangen. Demokratie ist für alle da. Doch was geschehen ist, bleibt Geschichte und gehört zu unserem Leben. Nur wer bereit ist, mit seiner Geschichte zu leben, vermag ein neues Leben zu führen.

Zur Aufarbeitung der Diktatur gehört auch die Aufarbeitung der Teilungsgeschichte, und der westdeutschen Politik des Umgangs mit dem ostdeutschen und osteuropäischen Kommunismus. Gestatten Sie, dass ich hier sehr persönlich werde, weil ich auf diese Weise am besten verdeutlichen kann, worum es mir geht.

Ich habe mit der westdeutschen Politik in den Jahrzehnten der DDR sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Manchmal fühlte ich mich vom Westen im Stich gelassen, manchmal instrumentalisiert, gelegentlich aber auch verstanden.

Dabei stand ich natürlich dem Westen und seiner Demokratie innerlich sehr nah, und lehnte die DDR ab. Meine Sympathie galt Westdeutschland, dem Land in dem ich nicht leben durfte, und meine Apathie der DDR, dem Land in dem ich leben musste.

Gleichzeitig spürte ich eine gewisse Hilflosigkeit des Westens gegen den Osten, die sich zunehmend in eine Akzeptanz und Anerkennung des Ostens wandelte.

In dem Maße wie das geschah, begann ich den Westen zu verachten.

Natürlich war der Westen in der Zeit des kalten Krieges in einer extrem schwierigen Lage, weil die kommunistische Politik ein permanenter Angriff nicht nur auf die eigene Bevölkerung, sondern auch auf den Westen selbst war.

Und hier war die Entspannungspolitik die Westdeutschland in den 60-ger Jahren begonnen hatte, eine echte Neuorientierung, und der Versuch altes Denken zu überwinden und neue Spielräume auszuloten.

Sie war im besten Sinne des Wortes eine demokratische Politik, weil sie menschliche Erleichterungen in den Mittelpunkt stellte. Die Entspannungspolitik hat auf diese Weise durchaus zur Auflösung des kommunistischen Machtblocks beigetragen.

Sie hat sich bemüht, den hochgefährlichen Rüstungswettlauf zu beenden, und abzurüsten. Und es gelang ihr die Anerkennungsbemühungen des Ostblocks geschickt mit Menschenrechtsfragen und menschlichen Erleichterungen verknüpft.

Allerdings ist sie bei der Anerkennung der kommunistischen Regime zumindest in Deutschland übers Ziel hinausgeschossen, und hat in Ostdeutschland ein Misstrauen gegen den Westen bewirkt. Im Rückblick lässt sich sagen, dass die westliche Entspannungspolitik zu viel mit den kommunistischen Machthabern, aber zu wenig mit der betroffenen Bevölkerung kommuniziert hat.

Eines der Erfolgsgeheimnisse der ostdeutschen Opposition bestand in der Erkenntnis, dass uns der Westen, wenn es im Osten hart auf hart käme, nicht wirklich würde schützen können, wir also auf uns allein gestellt waren. Und erst dadurch waren wir zu einem freien, selbstbestimmten Handeln fähig.

So begriffen wir, dass die politischen Umgestaltungen in der DDR, ihre Demokratisierung von uns in Angriff zu nehmen waren, und zwar alleine und selbstbestimmt. Dies tuend, wuchsen unser Selbstbewusstsein und unsere Selbstachtung.

Doch eine Besonderheit in der Geschichte der Wiedervereinigung war dann doch ein Gefühl der westlichen Übernahme für die Geschicke des Ostens, welches für mich mit Entwertung und Entmachtung verbunden war. Auch wenn ich die deutsche Einheit wollte, hatte ich doch das Gefühl der Fremdbestimmung.

Ein Großteil der Rechnungen für die SED-Diktatur wurden den Ostdeutschen erst nach der Deutschen Einheit präsentiert. Dazu gehören das Verschwinden ganzer Wirtschaftsstrukturen, die hohe Massenarbeitslosigkeit und der anhaltende Exodus aus den ostdeutschen Regionen in den Westen unseres Landes. Manches davon wäre vermeidbar gewesen, wenn der wirtschaftliche Wiederaufbau Ostdeutschlands beherzter und aktiver angepackt worden wäre.

Die Auflösung der der NVA, der Armee der DDR hingegen lief erfolgreich und geräuschlos. Eines ihrer Erfolgsgeheimnisse war, den ehemaligen Offizieren ihre militärische Ehre zu lassen. Das hat den Westen nichts gekostet. Eine Gefahr für die Demokratie ist vom Offizierschor der NVA nach der Einheit niemals ausgegangen.

Für die Riesenarmee von Nordkorea werden sie sicher ein Konversierungs- und Zivilisierungsprogramm brauchen. Vielleicht gelingt es, die Qualifikationen einiger Offiziere in der Wirtschaft nutzbar zu machen.

Heute befinden wir uns in einer Phase der Historisierung der Ereignisse der Deutschen Teilung und ihrer Überwindung. Heute geht es im Alltag der Demokratie vielfach um die Frage, wie man die Menschen gewinnen kann, sich für die Demokratie zu engagieren. Das sind wieder einmal Wertefragen.

Wenn die Menschen spüren, dass politische Mitgestaltung möglich, und wertvoll für den eigenen ist,

wenn sie spüren, dass sie etwas für sich tun, indem sie etwas für andere tun,

dass auch das politische Engagement in einer Gesellschaft Dienst an ihr ist,

dann werden sie im positiven Sinne bereit sein, sich hier zu engagieren.

Demokratische Politik kann das unterstützen, indem sie den Menschen individuelle Würde, und eigenen Wert zumisst, ihnen Freiheit vermittelt, und klarmacht, dass man auch als einzelner in seinen Grenzen Einflußmöglichkeiten besitzt.

Doch die alten Griechen haben mal gesagt, dass Menschen aus drei Gründen in die Politik gehen: Angst, Eitelkeiten und Privilegien. Ich glaube, mit dieser Art Realismus sind wir näher bei der Wahrheit.

Hoffen wir, dass Angst nicht nötig ist, und dass sich Eitelkeiten und Privilegien in Grenzen halten.

Und ich wünsche Ihnen viel Erfolg für die Zukunft Ihres Landes. Es war für mich eine große Freude, über meine Erfahrungen, die wir bei der Überwindung des Kommunismus in Deutschland gemacht haben, reden zu dürfen.

Ich freue mich auf die Diskussion.