Die "Neuen Horizonte" Teil 2

Vorbereitung: Aufbruch denken

Ich frass mich durch die Bücher. Ich war glücklich in dieser Bibliothek. Endlich kein Spekulieren mehr, kein Einlassen mehr auf Konzepte anderer Leute, oder Institutionen, die von ihren eigenen Interessen geleitet wurden, und versuchten, einen dafür einzuspannen. Mir war das so häufig passiert. Eine Regierung oder eine Partei hantiert immer mit den eigenen Pfunden, und versucht sie an den Mann zu bringen. Erst wenn sie sich selbst überzeugt hat, von den eigenen Grenzen, oder wenn sie abgelöst, abgewählt ist, orientiert sie sich in der Regel neu. 

 

Insofern war mein Literaturstudium auch ein Aufbruch in mein eigenes Leben. Es war nicht der erste und sollte nicht der letzte sein. Ich war auf der Suche nach einem neuen Konzept für Ostdeutschland, für seine strukturschwachen Regionen, wie der terminus technicus für die Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und geringer Perspektive korrekterweise lautet. Ich wollte etwas einlösen. Wir hatten den Ostdeutschen 1989/90 etwas versprochen, das mehr war, als die Deutsche Einheit: Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung; eine Gesellschaft, die wieder vital, wieder Freude und Spass am Leben vermittelt, die Kreativität ermöglicht und fördert, die Alternativen einfordert, die das ganze Spektrum des öffentlichen Lebens erweitert und bunt färbt: kurz, die neue Wege geht. 

 

Die Tristesse, die in Ostdeutschland herrschte, hatten wir nicht versprochen. Doch das war die Realität, und ich mochte mich nicht damit abfinden, was nebenbei politischer Selbstmord gewesen wäre. Sokrates hatte mit seiner Anfrage etwas angestossen, ein Problem anzupacken, das mir die ganzen Jahre schon auf der Seele lag. 

 

Zuerst studierte ich den wirtschaftliche Revitalisierung von Grossbrittanien unter der von den Gewerkschaften bitter bekämpften Eisernen Lady, Margaret Thatcher. Dann stiess ich auf Neuseeland, welches sich ebenfalls innerhalb eines Jahrzehntes von einem strukturschwachen Land mit darniederliegender Industrie zu einem modernen, prosperierenden Gemeinwesen mit hohen Zuwachsraten und niedriger Arbeitslosigkeit entwickelt hatte. In Israel hatte es einen ähnlichen Prozess gegeben, ohnehin ein faszinierendes Land, voller Widersprüche aber mit einer hochvitalen und innovativen Gesellschaft. 

 

Allen drei Beispielen gemeinsam war der neoliberale und letztlich globale Ansatz, der, das war zu spüren, kaum auf Ostdeutschland zu übertragen war. Denn unser Problem war die Strukturschwäche Ostdeutschlands, dem ein hoch effektives, stabiles und prosperierendes Westdeutschland gegenüber stand. Die Frage war also, wie man eine Region in einem Staat fördert, nicht, wie ein Staat überhaupt wieder flott wird. Zwar ist ein prosperierendes Gemeinweisen mehr als nur einzelne strukturschwache Regionen darin; jedoch, wenn eine Nation darniederliegt, und wieder flott gemacht werden muss, ist das wichtiger, als sich nur um einzelne Regionen darin zu kümmern. Deutschland hatte Strukturprobleme, keine Frage, aber es gab auch Beispiele ganz fantastischer Regionen darin, wenn sie auch allesamt in Westdeutschland lagen, womit in Ostdeutschland einzig Berlin mal würde mithalten können. Die Frage, die sich mir stellte, war also, mit welchem Hebel denen man einzelne Regionen fördern könnte, vor Ort, gewissermassen, auch ohne die grosse politische Unterstützung, ohne zusätzliches Geld, was dahin gepumpt werden musste. Geld schine mir ohnehin nicht das Problem zu sein. Geld floss nach Ostdeutschland. Immer nur nach Geld zu rufen, bedeutete auch, die eigene Verantwortung, die eigenen Möglichkeiten zu ignorieren. Also suchte ich weiter. 

 

Jetzt stiess ich auf die phantastischen Geschichten von Unternehmensgründungen, die mir immer das Adrenalin in die Adern spritzten. Da gäbe es viele Beispiele zu nennen, die ganz aus sich selbst heraus, unter den vorgefundenen Bedingungen grosse Betriebe aus dem Boden gestampft hatten, neue Technologien entwickelt hatten. Nicht einfach nur Tüftler oder Visionäre, oder Reiche bzw. Hochintelligente Menschen, also Ausnahmeerscheinungen. Nein Menschen, wie Du und ich, die sich auf den Weg gemacht hatten, und etwas auf die Beine gestellt hatten, was seinesgleichen wenig hatte. Warum sollte es solche Beispiele nicht auch in Ostdeutschland geben. 

 

 

Dann stiess ich auf Peter M. Senge, der als Mitarbeiter des berühmten Boston Instituts of Masachusetts eine ganze Theorie von start ups und deren Wachstum geliefert hatte. Sein spannendes Buch „Die fünfte Disziplin“, ist inzwischen zu einem Kultbuch geworden. Aber eigentlich sind es zwei Bücher, denn sein „fieldbook“ mit den vielen Beispielen seiner Theorie sollte man sich auch zu Gemüte führen. Dieses Werk bot eine völlig neue Form der Analyse von Wachstumsschwierigkeiten von einzelnen Unternehmen, aber auch Regionen. Es führte mich ein in eine neue Form von Politik, die anders mit Bürgern kommunizieren kann, als nur über Gesetze und Pressemitteilungen, sondern offener, direkter, anfeuernder. Und hier stiess ich plötzlich auf einen Literaturverweis – auf Wolf-Dieter Grossmanns „Entwicklung in strukturschwachen Regionen“. Und das elektrisierte mich nun vollends.

Dieser Grossmann war Mathematiker, Abteilungsleiter am Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle. In seinem Buch beschrieb er den sogenannten Kreuz-Katalytischen Prozess, ein Begriff aus der Chemie. Kurz gesagt, geht es dabei darum, dass in einem chemischen Prozess, in einem gemeinsamen Reaktionsraum, mehrere Prozesse gleichzeitig ablaufen. Und dabei gibt es mindestens zwei Stoffe, die Katalysator – Eigenschaften für den jeweils anderen Stoff im benachbarten Prozess in sich tragen. Ein Katalysator ist bekanntlich ein Beschleuniger. Wenn also ein Stoff sowohl Katalysator als auch Zielgrösse ist, und wenn darüber hinaus der eine Stoff Katalysator für das Wachstum des anderen Stoffes ist, der aber wiederum ebenfalls Katalysator für den ersteren Stoff ist, dann haben wir es mit einem kreuz-katalytischen Prozess zu tun. Das heisst, beide Stoffe feuern das Wachstum des anderen jeweils an. Sie befördern das Wachstum des anderen, und werden von ihm befördert. Sie befördern sich also gleichzeitig und gegenseitig. Und so beginnt ein Wachstum von geradezu gigantischen, gewissermassen exponentiellen Ausmassen. 

 

Dieses Modell übertrug Grossmann auf die Regionalentwicklung. Er behauptete, dass es in einer Region mehrere Faktoren gäbe, von denen deren Entwicklung abhängt. Wenn es gelänge die Schlüsselfaktoren zu finden, solche nämlich, deren Förderung automatisch die Förderung anderer Faktoren mit sich bringe, die also ein katalysatorische Wirkung hätten, und wenn es darüber hinaus gelänge, nicht nur einen solchen Faktoren zu diagnostizieren und zu fördern, sondern mehrere gleichzeitig, die sich gegenseitig fördern, und also ein kreuzkatalytischer Prozess initiiert werden könnte, dann könne in kurzer Zeit sich eine Region wie Phönix aus der Asche erheben und  eine geradezu höhenflugartige Entwicklung nehmen. 

 

Dieses Bild war genau das richtige für mich. Als ich das las, war mir, als hätte ich den Stein der Weisen gefunden. Denn solche Faktoren zu finden, dürfte nicht schwer sein. Sie zu fördern innerhalb einer Region, dürfte eine lösbare Aufgabe sein, eine Aufgabe, die man vor Ort anpacken und lösen konnte. Klar, das war auch eine politische Aufgabe. Aber vorher musste man die Faktoren finden, die aus Menschen Akteure machen, die aus Schülern oder Studenten Unternehmer machen. Die aus passiven Menschen aktive machen, also Leute, die etwas anpacken, die die Passivität und Larmoyanz Ostdeutschlands überwinden konnten; kurz Leute, die zur Elite einer Region gehören, weil sie etwas in ihr bewegen, weil sie etwas aufbauen, etwas gestalten wollen und können. 

 

Und jetzt brauchte ich Sokrates dafür. 

 

Ich machte einen Termin bei ihm, der inzwischen nicht mehr Geschäftsführer bei den Fränkischen war, sondern Chef der Zeit-GmbH, eines Technologietransferzentrums in Schwarzheide. Sokrates hatte diese Firma, die von den Kommunen des Landkreises finanziert wurde, selbst entwickelt, aufgebaut und geleitet. Sokrates selbst war das beste Beispiel für einen Menschen, der deshalb zur Elite einer Region gehört, weil er sie fördert, weil er sie anfeuert, weil er etwas anpackt, was vorher kein anderer gemacht hatte. 

 

Sokrates war schnell zu überzeugen. Er war, wie immer voller Tatendrang. Er hatte nie Zeitprobleme, er hatte immer Zeit, er fand immer einen Termin, er liess sich nie kirre machen, und er war von einem bespiellosen Optimismus, den ich in unserer Region so nicht wieder angetroffen habe. 

Zuerst mal brachte er Franziska Pfeiffer mit, seine kongeniale Partnerin in der Leitung der ZEIT – GmbH, aber eine Frau, vor der mich meine SPD mal gewarnt hatte, weil sie nämlich in der CDU war. Doch mich hat die Parteizugehörigkeit noch nie gestört, wenn es um Ziele oder Analysen ging. Logik fragt nicht nach Parteizugehörigkeit, sondern nach Sachverstand und Wissen. 

 

Wir drei verbrachten mehrere Nachmittage und Abende damit, die von mir mitgebrachten Ideen für unsere Region fruchtbar werden zu lassen. Wir überlegten, wie wir die Ideen von Grossmann für uns nutzen, wie wir selbst einen solchen kreuz-katalytischen Prozess für unsere Region auslösen könnten. Viele Faktoren konnten wir selbst ausmachen. Aber wir konnten auch in der Region eine ganze Reihe von Beispielen finden, die für Aufbruch standen. Sei es, dass das Firmen waren, resp. ihre Chefs, also Geschäftsführer, oder Kommunen, oder Künstler, oder ehrenamtlich Arbeitende. Wenn Strukturschwäche nicht nur als eine politische, oder wirtschaftliche Grösse aufgefasst wird, sondern als ein Mangel an individuellem Aufbruch in einer Region, dann war es wichtig zu erfahren, was die einzelnen bewogen hatte, sich auf den Weg zu machen, etwas zu bewegen, und zwar hier vor Ort. 

 

Und da lag es nahe, unseren Kreis zu erweitern. Dabei ging es nicht um Funktion, Ämter oder Bedeutung, sondern um Mentalität. Wir brauchten nicht die wichtigen und bedeutenden, wir brauchten die Macher, Leute, die etwas in Bewegung gesetzt hatten, nicht nur für sich, sondern für ganze Einrichtungen, kleine und grosse. Es musste Gründe dafür geben, dass sie sich in Bewegung gesetzt hatten. Es musste auch Gründe dafür geben, dass gerade sie durchgehalten, sich durchgesetzt hatten. Welche? Wir wollten diesen Leuten ein Forum geben, von ihren Erfahrungen und Hintergründen zu berichten, wir wollten von ihnen lernen, gingen aber auch davon aus, dass sie ihre Erfahrungen auch gerne weitergeben wollten, dass sie anregen wollten, aber auch angeregt werden wollten. Kurz wir wollten ein Netzwerk aus diesen Akteuren schaffen, das sich selbst befruchtet, und das seine Früchte auch nach aussen trägt, gewissermassen unser eigenes zuerst kleines kreuz-katalytische Netzwerk schaffen. Vor allem aber wollten wir wissen, was diese Leute selbst zu dem gemacht hatten, was sie waren, um herauszubekommen, was die Region für ihre eigene Entwicklung brauchte. Es ging dabei nicht um einzelne Faktoren, sondern um ihr Zusammenwirken, ihr sich gegenseitiges Befördern, so dass am Ende auch bei uns mal eine gigantische Entwicklung einsetzen könnte, die die Lausitz zu einer Wachstumsregion in Deutschland machen könnte. 

 

Während Sokrates und ich uns in unseren Gesprächen immer wieder gerne gegenseitig befeuerten, und unsere Visionen entwickelten, war es die sympathische und anpackende Franziska Pfeiffer, die uns gelegentlich auf den Boden zurückholte, die Nägel mit Köpfen machen wollte. 

 

Zuerst mal brauchten wir einen Namen, denn nomen est omen. Dafür haben wir uns Zeit genommen und eine eigene kleine brainstorming-Runde veranstaltet. Wir brauchten fast eine Stunde, da war er gefunden, der Name: die „Neuen Horizonte“.

 

Dieser blog ist der zweite Teil einer Auftragsarbeit für eine Festschrift und wird in den nächsten Tagen fortgesetzt.