Mein Freund-Partner Martin Miehe

Gestern ist mein Freund und Klavierspielpartner Dr. Martin Miehe 75 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß hat mich seine Tochter um einen Beitrag für eine Art Festschrift zu diesem Geburtstag, der im kleinsten Kreise begangen wurde gebeten. 

11.4.2023

Über Martin, bzw. meine Geschichte(n) mit ihm zu schreiben, heißt für mich immer auch, meine eigene zu erzählen. Martin sah ich nie von ferne, immer von nah, zumindest seit wir gemeinsam Klavier spielen; und das haben wir eigentlich immer getan. Die Gelegenheiten, wo uns nicht das Klavier zusammenführte, kann ich an den Fingern einer Hand abzählen. Und doch hat es sie gegeben, und sie waren nicht das Schlechteste was mir mit ihm und durch ihn passiert ist.

Mein Verbindung zu ihm begann auf einer Treppe, dem Eingang zur Geschwulstklinik der Berliner Charité, wo ich ihm quasi zufällig begegnet bin. Ich wusste, dass er in der Charité arbeitet. Ich wusste von ihm, aber ich suchte ihn nicht. Warum sollte ich? Ich hatte als Teenie mal in seinem Bett in Darlingerode geschlafen, in dem schönen Pfarrhaus von Pfarrer Miehe, mit dem mein Vater befreundet war. Mein Vater schätzte ihn sehr, und ich glaube, diese Wertschätzung beruhte auf Gegenseitigkeit. So viel Freunde hatte mein Vater nicht. Aber über seinen Kollegen und Amtsbruder Miehe hat er sich immer gefreut. Er hat gut von ihm gesprochen, und er hat jede Gelegenheit genutzt, Pfarrer Miehe zu seinen Jugendlichen, seiner Jungen Gemeinde in der Berliner Tieckstraße, Gemeindehaus von Golgatha einzuladen.

Vater Miehe beherrschte die Relativitätstheorie aus dem ff. Und er verstand es, diese schwierige Materie in einer so anschaulichen und fesselnden Art seinen Zuhörern mitzuteilen, dass die nicht von seinen Lippen wichen. Ich habe das selbst erlebt, und auch ich war gebannt von seiner Art, Weltraumphysik zu erklären. Der Kontakt beschränkte sich bei den beiden Amtsbrüdern nicht auf gegenseitige Vorträge, wir besuchten auch das Ehepaar Miehe in Darlingerode selbst. Und natürlich war da auch die Rede von Martin, dem Mediziner-Sohn, und wenn Frau Miehe von ihm sprach, schwang da immer auch Bewunderung und Stolz mit. Weniger beim Vater, der hielt sich mit Bewunderung zurück. Als Vater und Mann machte man sowas einfach nicht. Das kannte ich von meinem Vater auch. Und trotzdem bewunderte auch Vater Miehe seinen Sohn. Das konnte man spüren, wenn der z.B. über dessen Zensuren und Leistungen in Schule und Studium sprach.

Und so war eigentlich meine Beziehung zu Martin von Anfang an eingebettet in die Beziehung unserer Eltern, besser unserer Väter zueinander. Vielleicht haben sie an ihren Grundlagen mitgearbeitet, gestiftet aber haben sie die Freundschaft nicht.

Gleichwohl ist unsere Freundschaft auch ein Teil unserer jeweiligen Familiengeschichte.  Und die spielt bei uns beiden immer schon eine große Rolle.

Trotzdem, bis zu jenem Moment auf der Treppe der Geschwulstklinik gab es für mich keinerlei Anlass, Kontakt zu Martin aufzunehmen.

Nun aber hatte mich mein damaliger Klavierlehrer, Prof. Dietrich Brauer auf ihn angesprochen. Das war nicht sehr rühmlich für mich, fand ich zumindest, und es entsprach überhaupt nicht den Zielen, die ich mit dem Klavier für mich verbunden hatte.

Brauer war ein Nonkonformist. Er hob sich ab von der Mehrzahl seiner Kollegen, ihrem Dünkel, ihrem Ehrgeiz und ihrem Wohlgefallen an ihrer sozialen Stellung. Das war Brauer alles ziemlich egal. Er liebte moderne Klaviermusik, mit der eigentlich kein Staat zu machen war. Aber hier war er ein Spezialist, und in der DDR eine kleine Berühmtheit. Und er war bereit Schüler zu unterrichten, an denen sich seine Kollegen die Finger ausgebissen hatten. Es interessierte ihn nicht, ob sie sich wohlverhielten, fleißig übten, und überhaupt brav an ihrer Laufbahn arbeitete. Ihn interessierten Persönlichkeiten, wohl auch Begabungen, wenn sie noch verschüttet waren. Er konnte stundenlang Geschichten über Musiker- oder Künstlerbiografien erzählen. Wenn er an etwas glaubte, dann an das Potential, das in einem steckte.

Und ich, der ich erst spät begann, mich für eine Musikerkarriere, gar eine Pianistenkarriere zu erwärmen – eigentlich habe ich mich ja erst nach meiner Armeezeit richtig dafür entschieden – war für die meisten Klavierlehrer viel zu alt, als dass sie mir zugetraut hätten, die hohen Gipfel der Klavierkunst zu ersteigen. Er war wohl damals der einzige Hochschullehrer, der überhaupt bereit war, sich auf jemandem wie mich einzulassen. Leider gelang es mir trotz seiner Bemühungen nicht, die Aufnahmeprüfungen an Hans-Eisler zu bestehen. Zweimal unterzog ich mich dieser Tortur, das zweite Mal hat mich Brauer schon gar nicht mehr begleitet. Er war nicht der Meinung, dass ich das Klavierspielen nicht erlernen könnte, aber er befürchtete, dass das ziemlich lange dauern würde, und dass ich mir keine Vorstellungen von den Mühen machen würde, die mir bevorstehen würden. In seiner Jugend will man von solchen Sorgen nichts wissen, und das ist vielleicht auch ganz gut so. Ich schlug Brauers vorsichtigen Einwände in den Wind, überzeugt davon, dass Wille und Energie wichtiger sind als Erfahrung und Geduld. Zuerst übergab mich Brauer seinem Meisterschüler, Pantscho Vladigeroff, der ihn aber in pädagogischer Hinsicht enttäuschte. Und dann unterrichtete Brauer mich persönlich. Gemessen am Ziel einer Aufnahme in die Hochschule für Musik, erfolglos, gemessen an Lebenserfahrung, spannenden Gesprächen, Einführung in die Welt der Kunst des Klavierspiels, von bleibendem Wert.

Brauer war, obgleich Mitglied der Ost-CDU beileibe kein Parteigänger des SED-Regimes, sich wohl auch bewusst, dass die Hürden, die ich für ein Klavierstudium zu überwinden hätte, nicht nur pianistischer Natur waren. Und da begann er, mich vorsichtig auf eine Alternative zum Studium einzustellen. Das klang in etwa so: Er hätte da neulich einen Arzt, einen entfernten Verwandten – erst kürzlich entdeckt – kennengelernt, der wäre ein fantastischer Blattspieler, der spielt alles vom Blatt, was man ihm hinstellt, ganz gleich unter welchen Umständen, und vor welchem Publikum. Und man muss nicht Pianist sein, um Klavier zu spielen. Und ich könnte ja mal Kontakt zu ihm aufnehmen.

Ich wollte nicht.

Ich war Programmierer zur damaligen Zeit. Meine Arbeitsstelle war das Institut für medizinische Physik und Biophysik, ein vorklinisches Institut der Charité. Die Rechner, die ich zu programmieren hatte, befanden sich im ersten Stock der Geschwulstklinik. Da ging ich jeden Tag ein und aus. Programmieren machte mir Spaß, aber es war nicht mein Lebensziel, es füllte mich nicht aus. Es war mir schlicht zu wenig, ohne Perspektive, ohne Ruhm, ohne Ehrgeiz. Das heißt, ich programmierte eigentlich nebenher. Man brauchte zwar Zeit dafür, aber eine Herausforderung war das nicht.

Klavier war eine Herausforderung, schwer zu erlernen, aber mit Perspektive und mit Seele, wenn ich das hier so nennen darf. Meine Computer hatten ja viel, eine Seele hatten sie nicht. Sie füllten mich nicht aus, auch wenn ich mir im Institut durchaus Anerkennung erworben hatte. Doch das zählt nicht, wenn der Sinn nach anderem steht.

Und dann stehe ich eines Tages auf der Treppe zur Geschwulstklinik und Martin kommt mir entgegen. Der Zufall selbst hat das entschieden. Und dann sprach ich ihn an. Zumindest ist das meine Erinnerung. Martin mag eine andere haben. Ist egal. Wie wir uns verabredeten, weiß ich nicht mehr. Aber wir taten es, und wir trafen uns in seiner Wohnung, Waldeyer Str. 9, Nähe Bahnhof Frankfurter Allee.

Martin hatte eine Wohnung, da quollen einem die Augen über, fast so schön wie die von Brauer. Im riesigen Erkerzimmer über der Häuserecke standen zwei Flügel gegenüber, ein Traum für jemanden wie mich. Und was noch schöner war, man konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit dort spielen.

Ich war zur Vorbereitung vorher in der Musikbibliothek der Berliner Stadtbibliothek gewesen, und hatte einen Schatz entdeckt, die Kunst der Fuge von Bach in einer Fassung von 1936 für Klavier zu vier Händen.

Die nahm ich mit zu Martin, und sie gehörte zu den ersten Stücken, die wir beide vollständig spielten.

Ich konnte vorher noch nicht Blattspielen. Martin nahm mir die Sorgen davor. Er brummelte irgendwas von: das kriegst Du schon. Heute würde ich sagen, Blattspielen kann man lernen. Aber man lernt es nicht wie schreiben oder lesen. Blattspielen kann man nicht langsam anfangen, beim Blattspielen muss man sofort ohne Umschweife sofort mit dem richtigen Tempo beginnen, man muss so viel Noten wie möglich, so schnell es geht erfassen und sofort auf die Tasten bringen. Das ist Höchstleistung fürs Gehirn. So was lernt man nicht mit kognitiver Leichtigkeit. Das lernt man nur durchs Tun. Ich lernte es bei der Kunst der Fuge.

Wir spielten eine Fuge nach der anderen. Die Kunst der Fuge hat etwas mehr als 20 davon. Unterschiedlich lang, keine unter 5 Minuten. 3-stimmig, vier-stimmig, fünf-stimmig, Doppelfugen, Quadrupelfugen, Kanons, schnell, langsam, alles dabei. Und ich weiß nicht mehr wie; die Zeit verging wie im Fluge. Die Familie von Martin, zwei kleine Kinder, Traudel, alles schlief schon, es war weit nach Mitternacht, da spielten wir beide die Kunst der Fuge immer noch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das schön geklungen hat. Ich habe meine Hände nur noch auf die Tasten gelegt, irgendwie spielten die von allein. Aha, dachte ich, so lernt man also Blattspielen. Und als wir fertig waren, war es weit nach Mitternacht, etwa halb zwei, und es klingelte an der Tür. Gott sei Dank war ich nicht der Hausherr. Mutig, couragiert und entschlossen, männlich halt, wie der ganze Martin, schritt er zur Tür und öffnete. Da war keiner. Aber einer Rose lag auf der Schwelle. Das war unsere erste Anerkennung, die wir erhielten, zumindest interpretierten wir das so. Vielleicht war es auch ein diplomatisch gefasster Hinweis, dass es jetzt langsam reicht. Wer weiß das schon. Der Urheber, oder die Urheberin dieser Rose hat sich nie zu erkennen gegeben. Wir aber hatten unsere erste schöne Geschichte miteinander.

Martin und ich trafen uns jetzt öfter.

Wir spielten Schubert, von Anfang an spielten wir Schubert. Das war sowieso einer meiner auch unserer Lieblingskomponisten, manchmal nach, manchmal vor Bach. Und wir hatten das Glück am Anfang gleich die f-Moll-Fantasie zu spielen. Die fängt sehr leise an. Das gehörte nicht gerade zu unseren Vorzügen. Ich übte wie ein Berserker. Und wir kämpften miteinander und gegeneinander um die leisen Töne, und die schönen Melodien.

Man mag einwenden, Musik sei doch eine Sache der Schönheit und des Gefühls, da müsse man doch nicht kämpfen. Diejenigen, die das sagen, haben nichts verstanden. Gar nichts.

Ich kann nicht sagen, dass ich immer glücklich war über unser Spiel. Und Blattspielen war ja noch eine zusätzliche Herausforderung. Aber gelegentlich bekam unser Spiel Spirit. Das war bei den ersten vier Kontrapunkten der Kunst der Fuge der Fall, das war bei der f-Moll-Fantasie von Schubert so, das war bei Debussys Petite Suite so. Und offenbar kam diese Musik auch an.

Das wollte wir auch zeigen. Und so begann die Serie der Hauskonzerte im Hause Miehe, Waldeyer Str. 9, in den 80er Jahren in Ostberlin. Und Martin wäre nicht Martin, wenn da nicht die creme de la creme zu Gast gewesen wären. Bärbel Bohley mit ihrem Mann Dille, Rathenow, der Cembalist Thalheim, Anne Quasdorf, von den vielen Medizinern ganz zu schweigen. Und natürlich nicht zu vergessen, Pastor Cyrus, und Gemeindepfarrer von Galiläa und nebenbei Vikariatsvater von Thomas Krüger, um die Ecke, der Hauspastor von Martin, und ihm freundschaftlich verbunden.

Diese Hauskonzerte waren immer schön. Es gab Musik. Man war aufgeregt. Wir spielten. Traudel spielte, meine Schwester spielte, wir spielten gemeinsam, wir spielten jeder allein. Wir konnten gar nicht aufhören. Und wenn es ans Ende ging, sagte ich zu Martin, lass uns noch eins spielen. Und dann spielten wir noch eins. Und wenn es denn nach Mitternacht war, meinte Martin, er würde mich nach Hause fahren, oder zu U-Bahn. Aber dann spielten wir noch eins. Und Martin und ich tranken noch eins. Und dann konnte Martin nicht mehr Auto fahren. Tat er aber manchmal doch. Und ich war ihm dankbar dafür. 

Und nun kam ich auch manchmal auf seine Station in der Hautklinik, da war er nämlich Stationsarzt. Meine Güte, hatte das einen Klang: Stationsarzt. Unsereins war ja nicht krank, Mitte 20 ist man kaum mal ernsthaft krank. Aber man brauchte diesen Zettel. Und Martin sagte dann immer, komm mal zu mir auf die Station. Und da kriegte man diesen Zettel. Martin war da schon immer recht freigiebig. Natürlich, wenn man wirklich was hatte, gab es eigentlich keinen besseren Arzt als ihn. Und das ist bis heute so geblieben. Auch wenn ich heute keinen Zettel mehr brauche.

 

Die Erfahrungen auf der Station von Martin waren in jeder Hinsicht lehrreich. Martin ging in seinem weißen Kittel über den Flur, von Zimmer zu Zimmer. Und manchmal schlichen sich Patienten von der Seite ran, und steckten ihm eine Tafel Schokolade in die tiefe Kitteltasche. Martin tat, als würde er nichts merken, und die Leute schlichen sich wieder. Dankbarkeit ist eine merkwürdige Kategorie.

 

Martin hatte da Fähigkeiten, über die sprach er manchmal. Zum Beispiel Anamnese. Die Leute erzählen ja viel. Ich kannte ja Martin inzwischen, der machte nicht viel Worte, und wer ihn nicht kennt, konnte das für Aufmerksamkeit halten. Ich frug ihn einmal, wie er denn die Zeit so verbringt, wenn die Patienten ihm ihr ganzes Leben erzählen. Ja, meinte er. Manchmal erzählen die viel. Und er will sie auch nicht unterbrechen. Denn das kann ja wichtig sein, dass die mal erzählen können, auch wenn das überhaupt nichts mit der Krankheit zu tun hat. So wie ich Martin kenne, hat er sich gelangweilt. Und so frug ich ihn, was er denn dann mache, wenn ihm die Leute so viel erzählen. Er guckte mich an, und meinte dann, er memoriere dann Gedichte. Eine typische win-win-Situation.

 

In der Hochphase unseres Zusammenspiels waren wir fast jede Woche mindestens einmal zum Klavierspielen in der Waldeyer Straße. Inzwischen lebte ich mit Beate zusammen, die war häufig mit dabei. Traudel war ja nicht immer zu Hause, die spielte ja im Babelsberger Filmorchester und hatte abends zu arbeiten. Dann übte Beate mit Verena oder Daniel irgendwelche Sportübungen, oder machte Hausaufgaben mit ihnen und solche Sachen, und Martin und ich konnten spielen.

 

Doch wir spielten nicht immer. Es gab Sachen, da spielte Martin nicht. Das war zum Beispiel, wenn die Zahnspange von Daniel verschwunden war. Ich hatte ja den Verdacht, dass das kein Zufall war. Dann suchten wir die Zahnspange. Und Martin fand sie immer, er hat bis heute eine Engelsgeduld beim Suchen. Und er findet immer, was er sucht.

 

Martin war der erste Patenonkel, den wir für unser erstes Kind Johanna ausgesucht hatten. Als Beate und ich ihn frugen, freute er sich, und er weiß bis heute, wann Johanna Geburtstag hat. Ich glaube, er hat sie einmal angerufen. Das ist schön. Und Johanna hat immer jemanden, wo sie hingehen kann, wenn sie mal krank ist. Wir sind damals viel mit Johanna in der Waldeyer Straße gewesen. Denn erstens war es da schön, und man konnte musizieren, und zweitens war unsere eigene Wohnung in der Kriemhildstrasse das glatte Gegenteil von der Waldeyer Straße, klein, niedrig, eng, die ganze Wohnung ein Symbol für die Wohnungsmisere in der damaligen DDR.

 

Damals war es, dass Martin meine Ehe rettete. Ich bin ausgerissen – oder wie soll ich das nennen - von zu Hause, von der Kriemhildstrasse im Bewusstsein, dass ich das nicht mehr aushalte, und wegwill, und dass ich dafür auch meine Familie, Frau und Kind verlasse. Und natürlich bin ich zuerst, völlig orientierungslos zu Martin in die Waldeyer Straße gefahren. Da war er noch gar nicht da. Traudel war da. Und die sah mich an, ein Häufchen Unglück, das ich damals wohl war, erfasste die Situation, meinte ich solle mich mal hinsetzen, Martin käme nachher.

 

Dann kam er, machte nicht viel Worte, nahm mich mit, und fuhr mich zurück in die Kriemhildstrasse Das war nicht unwichtig, für mich, und für meine Familie. Aber es war kein Ergebnis langen Redens. Geredet wurde eigentlich gar nichts. Stattdessen gehandelt. Ich hatte gedacht, dass ich es nicht mehr aushalte, in der Kriemhildstrasse. Aber plötzlich war ich wieder da.

 

Ja, das Leben hat seine Krisen, damals wie heute. Und manchmal ist es einfach gut, wenn es jemanden gibt, der einen einfach zurückfährt. Und der nicht viel redet, sondern handelt. Wenn es denn immer so einfach ist?

 

Das Leben ging weiter.

 

Inzwischen hatte ich nach meiner zweiten verkrachten Aufnahmeprüfung meine pianistischen Ambitionen für beendet erklärt und mich für ein Fernstudium zum Ingenieur für Informationsverarbeitung entschieden. Denn von irgendwas muss man ja leben. Und wenn ich schon mal Programmierer war, dann wollte ich wenigstens etwas mehr Geld damit verdienen.

 

Die DDR war auch nicht mehr das, was sie mal war. Es gab zwar kein Tauwetter in der DDR, aber Verwandtenbesuche zweiten Grades, man konnte in den Westen fahren. Davon profitierten wir beide, Martin und ich, leider nicht zusammen. Und einmal hatte ich das große Glück, und konnte, gesponsert von einem Westonkel in die Toskana nach Florenz, der Stadt der Renaissance reisen. Und wieder einmal begriff ich, welches Verbrechen die SED an uns, an der Bevölkerung der DDR verübte, indem sie ihr die offene, große Welt draußen vor der Mauer von Berlin vorenthielt, im Falle von Florenz auch das Studium ihrer geistigen und ästhetischen Wurzeln. Ich schreibe das hier, weil das Folgen für meine Freundschaft mit Martin hatte.

 

Denn so voll, wie ich aus Italien 1987 zurückkam, voller Eindrücke, und Massen an Fotos, so gab ich die weiter unmittelbar nach meiner Rückkehr aus dem Westen, mit einem durchschlagenden Erfolg, der mir damals gar nicht so bewusst war. Erst Jahre später erzählte mir Martin, dass es meine Reiseerzählungen und Reflektionen waren, welche in ihm das bereits ins Auge gefasste Vorhaben einen Ausreiseantrag zu stellen, nicht mehr weiter aufzuschieben, sondern bekräftigen und realisieren ließen.

 

Doch für mich brach – angesichts des Ausreiseantrages – eine Welt zusammen.

 

Das war das Schicksal des DDR-Bürgers. Es wurden immer weniger. Es gingen so viele in den Westen, Freunde, Bekannte, Kollegen, wertvolle Menschen, Menschen, die fehlten. Man vereinsamte, und man war sauer. Es haute mich um, als Martin mir davon erzählte. Ich konnte es ja verstehen. Die Probleme der Kinder in der Schule, die persönlichen Einschränkungen im Beruf, die täglichen Diskriminierungen im Alltag der DDR…..

 

Aber weg ist weg. Und wenn ein Freund in den Westen ging, dann war er eben auch weg. Es ging ein Stück von einem selbst dabei verloren. Alltag für einen DDR-Bürger. Ich hätte das auch machen können. Aber noch wollte ich nicht. Ich wollte mein Land nicht den Kommunisten überlassen.

 

Damals versuchte ich meinen Kummer in Musik umzusetzen. Und das gelang auch. Wie auch immer, am Ende beherrschte ich die 24. Fuge h-Moll von Bach aus dem Wohltemperierten Klavier Nummer 1. Ein kompliziertes, hochschwieriges Stück, voller Tücken und langen musikalischen Bögen, dessen Schönheit mir immer bewusst war, aber an das ich mich nie herangewagt hätte. Wenn ich denn nicht etwas zu verarbeiten gehabt hätte. Und wenn ich nicht meine Empfindungen in dieser Fuge widergespiegelt gesehen hätte. Das war wichtig.

 

Und außerdem hat Martin ja nichts anderes gemacht als sein gutes Recht geltend. Nicht er war schuld an der Misere des Verlassenwerdens in der DDR, sondern dieses Land. Nicht an ihm hatte ich mich abzuarbeiten, sondern an diesem Staat und das, für das der sich hielt.

 

Ich will jetzt nicht sagen, dass das ein wesentlicher Grund für mich war, in die Opposition in der DDR einzutreten, aber das spielte sicher mit.

 

Opposition ist auch eine eigene Geschichte. Auf jeden Fall konnte man in ihr Lebensmut gewinnen.

 

Und beides, Opposition und meine enge Freundschaft zu Martin, muss irgendwie dem MfS aufgefallen sein. Denn als ich am 7. Oktober 89 zur Gründung der SDP aufbrach, da hat sich die Stasi auch in der Waldeyer Str. bei Martin und Traudel umgesehen, ob ich nicht vielleicht hier wäre, damit sie mich abhalten könnte an dieser Gründung teilzunehmen.

 

Ich bin dann abends nach der Gründung mit Beate noch bei Martin gewesen. Ich weiß nicht wie, und was wir mit unseren Kindern gemacht haben. Ich war völlig high, ohne irgendwelche Drogen genommen zu haben. Ich musste diesen Tag verarbeiten. Wir haben wohl Klavier gespielt. Wir hatten uns weit vorher verabredet, ohne auf den politischen Kalender zu kucken. Ich zumindest ahnte da noch nichts davon, dass ich am 7. Oktober der 1. Sprecher der neu gegründeten SDP werden würde.

 

Von nun an hatte ich nicht mehr viel Zeit fürs vierhändige Klavierspielen. Einmal kam Martin zufällig zu mir in die Wohnung, mitten in der friedlichen Revolution, und er war schon umgezogen nach Westberlin, da tagte hier gerade unser geschäftsführender Ausschuss oder so. Und was spielten wir? Bach, Kunst der Fuge, zum Ergötzen meines anderen Freundes, der, zufällig oder nicht, auch Martin heißt, Martin Gutzeit.

 

Martin ging eigentlich nicht in den Westen, der Westen kam zu ihm, wie zu allen von uns. Als der Umzugswagen vor Martins Tür stand, war die Mauer schon offen. Bis auf den spontanen Besuch von Martin bei mir in der Wohnung unmittelbar in der Wendezeit, haben wir uns das ganze Jahr nicht gesehen.

 

Und danach brauchten wir eigentlich einen neuen Anlauf. Ich hatte einen Job, der mich schwer einband. Und Martin, der sich als praktizierender Facharzt eine neue Existenz aufbaute, hatte nun auch nicht gerade viel Zeit. Das gemeinsame Musizieren fehlte mir, und es scheint mir so im Rückblick, es fehlte auch Martin.

 

Mit dem Ende der DDR, dem Ende des SED-Regimes hatte sich auch für unser Klavierspiel ziemlich viel geändert. Diese Hausmusiken, die wir veranstaltet hatten, waren ja ein Ersatz für den Mangel an öffentlichen Gelegenheiten, die es in der DDR für uns nicht gab, weil die SED auch über jede Form von künstlerischen Veranstaltungen wachte, weil sie alles in der Hand behalten wollte, und unterband, was ihr nicht passte. Unsere Hausmusiken waren immer ein Event, und sie waren ein kleines Abenteuer, sie hatten etwas Intimes, sie hatten einen Hauch von Freiheit an sich. Sie waren ein Beispiel für eine eigene Kultur, die ich Untergrund-Kultur oder gar Sub-Kultur nicht nennen will, das wäre wohl übertrieben, aber sie hatten ihren spezifischen Charme eben nur in der DDR entwickeln können. Das fiel jetzt weg. Auch der Gewinn von Freiheit kann Fehlstellen erzeugen.

 

Manchmal spielt einfach Glück die entscheidende Rolle. In meinem Fall war das Pfarrer Zahn, den ich anlässlich eines Gedenkgottesdienstes in Mühlberg (Elbe) für die Opfer des Internierungslagers unweit von dort, kennen und schätzen lernte, und der mich zu sich in seine Saxdorfer Kirche einlud, wo ich mir aussuchen durfte, welche Form von Veranstaltung ich dort durchführen wollte. Pfarrer Zahn lebte dort gemeinsam mit seinem Lebenspartner, dem Maler Hans-Peter Bethke, und beide hatten während der DDR-Zeit ein kulturelles Kleinod aus dem Ensemble von Kirche, Garten und Sommerveranstaltungen geschaffen, das im weiten Umkreis dort im Süden von Brandenburg seines Gleichen nicht hatte. Und beide haben es verstanden, diesen Charme, den sie dort entwickelt hatten aus der DDR heraus in die Zeit nach der Deutschen Einheit zu bewahren, ja weiter zu pflegen und zu entwickeln. Ihnen war der Schritt in die Öffentlichkeit gelungen.

 

Und natürlich entschied ich mich für ein Konzert für Klavier zu vier Händen mit Martin.  Es war das erste öffentliche Konzert, das Martin und ich überhaupt gaben. Es war glaube ich Frühjahr 1993 und ich kam zu spät zum Konzert. Ich hatte meine komplette Familie im Auto, und jeder weiß, dass Termine mit Kind und Kegel schwer zu halten sind, und ich konnte nicht anrufen. Aber Martin war schon da. Wie schwer ich ihn auf die Folter gespannt hatte, bei einer vollen Kirche, mit einem Publikum, das auf die Matadoren wartet, und einer ist noch nicht da, und man weiß nicht, ob er noch kommt oder nicht, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Pfarrer Zahn uns zuerst mal Kuchen anbot, als wir endlich da waren. Und Kaffee, damit wir uns abregen können. Und dann war das ein extrem schönes Konzert. Es war das erste Konzert nach der Wende, und es war der Beginn einer ganz anderen Art von Musizieren, als wir in der DDR praktiziert hatten.

 

Ich hätte es kaum für möglich gehalten, dass wir einen solchen Erfolg haben würden. Und das machte mir und wohl auch Martin Mut, es auch mit anderen Formen zu probieren.

 

Und so spielten wir beispielsweise in einer gemeinsamen politischen Veranstaltung mit Jürgen Fuchs, der aus seinen Büchern las im Finsterwalder Kreismuseum 1994, die auch ein großer Erfolg wurde. Ich konnte diese Unterstützung echt gebrauchen. Sogar das Fernsehen war da, mehr Promotion kann man gar nicht haben.

 

Und dann kamen die Potsdamer Konzerte hinzu, die ein echtes Kontinuum für uns wurden, und die jedes Jahr in der Adventszeit den Veranstaltungssaal füllen, erst im Mendelssohn-Haus am Heiligen See, und nun seit vielen Jahren im Lichtenau-Palais gegenüber den Parkanlagen von Schloss Cecilienhof.

 

Wir sind mit unseren Konzerten nicht Teil des industriellen Musik-Betriebes, und das ist bestimmt auch ganz gut so. Es gibt aber darunter eine Ebene des semi-professionellen Musikbetriebes, der öffentlich stattfindet, auch vermarktet wird, und der von Musikliebhabern mit viel ehrenamtlicher Arbeit realisiert wird, und wo gelegentlich sogar Geld verdient wird. Da sind zum Beispiel die Waidmannsluster Konzerte in der Königin-Luise-Kirche, die im Wesentlichen dem Ehepaar Nieschalk zu verdanken sind. Beide haben es geschafft ein Publikum zu entwickeln, das in ausreichender Zahl dafür sorgt, dass diese Kirche mit wöchentlichen Musikveranstaltungen Menschen aus ganz Berlin anzieht, die sich hier wohlfühlen, die gerne kommen, und die auch gerne wiederkommen. Das würden sie nicht, wenn sie nicht die Erfahrung gemacht hätten, hier immer etwas Schönes und Bleibendes geboten zu bekommen. Den Kontakt zu Helga und Wolfgang Nieschalk hat Martin geknüpft. Ich muss zugeben, ich habe ihn weidlich für mich und anderweitige Konzerte in anderen Besetzungen ausgenützt. Martin möge mir verzeihen.

 

Ein besonderes highlight war unser Konzert im Kraftwerk Plessa, weithin sichtbar jedem, der die B169 zwischen Elsterwerda und Ruhland unterwegs ist. Ich war Schirmherr dieses Kraftwerks, das bis 1990 Braunkohle verstromt hat, und das dann zu einem Industriedenkmal umgewidmet wurde. Und ich war befreundet mit seinem Geschäftsführer Hajo Schubert, der mit seinem Temperament und Optimismus einzigartig war und ansteckend.

 

Als ich in diesen riesigen Hallen stand, die einst vom Maschinenlärm dröhnten, die jetzt leer waren, und die einen Klang ermöglichten, die jeder norddeutschen Hallenkirche Konkurrenz machen konnten, da war mir klar, dass wir hier einfach Klavier spielen mussten.

 

Hajo Schubert war in seinem Organisations-Element. Er beschaffte den Flügel, einen Konzertflügel aus dem spätstalinistischen Kulturhaus, das die SED einst der Braunkohlengemeinde Plessa zum Geschenk gemacht hatte, und das, weil es unter Denkmalschutz steht, den Ort auf ewig prägen wird. Doch den Flügel benützte dort niemand. Hajo Schubert organisierte einen Kran, der den Flügel durch ein Fenster auf den Turbinentisch des Kraftwerks bugsierte. Wir spielten direkt neben der Siemens-Turbine, die hier bis 1990 Strom ins Netz eingespeist hat.

 

Das wurde das größte Konzert, das wir je gegeben haben. Vierhundert Leute waren anwesend. Wir spielten von Bizet die Kinderstücke und Faure und Debussy und Bach, das ganze Programm. Martin war so aufgeregt, dass er mit dem Spielen bereits begann, da saß ich noch nicht mal richtig, und hatte zu tun, den Anschluss zu finden.

 

Einer unserer Höhepunkte in unserer gemeinsamen Klavier-Karriere war unser Konzert im Münchner Gasteig, organisiert und gestaltet von Eberhard Zagrosek, einem ehemaligen Manager, den ich durch Prof. Sava, bei dem ich lange Jahre Unterricht nahm, kennenlernen durfte. Zagrosek ist auch ein begnadeter Pianist, der nun nach seiner beruflichen Karriere seiner Leidenschaft frönte, und u.a. ein Festival von Amateurpianisten, den „Gasteig Meister-Marathon“ in München veranstaltete. Allen Künstlern gemeinsam war, dass sie von ihrem Klavierspiel nicht leben mussten, ihr Geld anderweitig verdienten. Aber im Gegensatz zu uns beiden hatten sie alle studiert, z.T. an renommierten Häusern, wie dem Pariser Konservatorium. Die beiden einzigen echten Amateure waren Martin und ich. Aber niemand von ihnen spielte vierhändig, oder gar an zwei Klavieren. Wir gaben das Abschlusskonzert an zwei Klavieren mit Poulenc und Reger, sauschwer und hochvirtuos. Und was den Amateurstatur betrifft, der ist nur ein label, ein Etikett und besagt gar nichts. Musik fragt nicht nach Rang und Stellung, Musik will erfasst und gestaltet werden. Das ist ihr Maß, nicht der Titel.

 

Und dann sollten wir eigentlich in Venedig spielen. Doch das Konzert musste abgesagt werden, weil genau in dieser Woche die Corona-Pandemie ausbrach. Beate und ich verlebten ein herrliches Wochenende im leeren Venedig. Corona haben wir erst später bekommen. Und Venedig müssen wir eigentlich noch mal angehen. Ist verlockend.

 

Martin wird jetzt 75. Andere haben da ihre musikalische Karriere schon lange beendet. Martin hat das nicht im Sinn. Beate und ich gratulieren von ferne aus der Hauptstadt der Musik, aus Wien.

 

Die nächsten Konzerte sind schon terminiert.

 

Es gelingt immer wieder, einen Teil des musikalischen Gehalts der vielen Stücke, die wir spielen, zu Gehör zu bringen, oder, wie man so sagt, den Funken überspringen zu lassen. Manchmal bin ich vor einem Konzert nicht sicher, ob wir das hinkriegen. Manchmal bin ich ernüchtert, manchmal frustriert. Aber in einem Konzert ist das alles weg. Die Probenphasen sind manchmal quälend. Wie gesagt, Musik hat auch mit Kampf zu tun. Die Konzerte sind alle schön. Einmal haben wir Grand Duo von Schubert gespielt, das fand ich nicht so toll. Jetzt werden wir es wiederholen. Und ich verspreche, es wird ein Genuss.

 

Und es wäre schön, wenn es uns vergönnt bliebe, gemeinsam noch viel spielen zu dürfen.

Unser aller Leben ist endlich. Das ist unsere Natur. Doch die Fähigkeit zur Musik ist auch ein Teil unserer Natur. Und sie zu gestalten, das haben wir, im Gegensatz zur Dauer unseres Lebens in der Hand. Gebe es Gott, dass wir noch viel musizieren können.