Dekonstruktion eines Mythos

Ich habe gelesen:

Florian von Rosenberg

Die beschädigte Kindheit

Das Krippensystem der DDR und seine Folgen

Beck München 2022

Broschiert, 288 Seiten

 

 

Über das Krippensystem der DDR ist viel geschrieben und geredet worden. Es war Gegenstand politischer Auseinandersetzungen bis weit nach dem Ende der DDR, Vorbild für die einen, eine Art Dämon für die anderen. Jetzt hat ein Erziehungswissenschaftler aus Erfurt, Florian von Rosenberg auf Grund der Archivakten des Gesundheitsministeriums die Schaffung, Entwicklung und die Kontroversen dieses schwierigen Kapitels der DDR-Gesellschaft rekonstruiert. Herausgekommen ist ein lesenswertes, interessantes, aufschlussreiches aber auch in mehrfacher Weise erschütterndes Werk der Aufarbeitung der DDR, das nicht nur das Betreuungssystem für Babys und Kleinkinder in der DDR konstruktiv beleuchtet, sondern darüber hinaus – en Passant - einen Blick in die widersprüchliche Welt kommunistischer Intellektueller wirft. Lesenswert ist dieses Buch vor allem wegen der vielen bisher unveröffentlichten Quellen, die im Archiv des Gesundheitsministeriums der DDR lagern, aus denen authentisch hervorgeht, wie umstritten – bei Eltern, Medizinern und den Angestellten der Krippen selbst - dieses DDR-spezifische Betreuungssystem der kleinen und kleinsten Kinder in der DDR von Anfang an gewesen ist.

Neben den offenkundigen ökonomischen Interessen der SED-Führung an einer hohen Frauenarbeitsquote, welche nur durch ein flächendeckendes und quasi alle Altersstufen der vorschulischen Kindheit abdeckendes Betreuungssystem ermöglicht werden konnte, gab es auch einen erheblichen ideologischen Aspekt für das Krippensystem in der DDR, das Rosenberg mit einem Zitat von Clara Zetkin aus einer Reichstagsrede von 1921 auf den Punkt bringt:

„Wir sagen, der Staat und die Gesellschaft haben nicht bloß die Pflicht, sie haben das Recht zur Erziehung. Das Kind ist nicht, wie es uns aus der landläufigen Vorstellung entgegentritt, ein ‚Privateigentum der Eltern‘, …. das diese nach ihrem Belieben, nach Laune und Mitteln entweder bilden oder auch verbilden dürfen. Nein, das Kind ist eine gesellschaftlicher Wert, ist der größte gesellschaftliche Wert, und der Staat, die Gesellschaft hat ein Recht darauf, dass dieser Wert nicht verschleudert und vergeudet werde, sondern dass er die volle Höhe seiner Entwicklungsfähigkeit erreicht.“

Mit diesem Selbstbewusstsein ausgestattet haben die Ostdeutschen Kommunisten ein in der ganzen Welt einmaliges Krippensystem errichtet, das nicht einmal im Mutterland des Kommunismus, in der Sowjetunion seines Gleichen gefunden hat.

Die SED hat dieses System von Anfang an propagandistisch begleitet und seine vermeintlichen Vorzüge herausgestellt. Gleichzeitig gab es aber auch von Anfang an wissenschaftliche, fachkundige und von selbst linientreuen Wissenschaftlern erarbeitete Studien, die die offenkundigen Schwächen des Krippensystems offenlegten.

Diese Schwächen sind schnell benannt: es ist die hohe Krankheitsanfälligkeit der Babys und Kleinkindern in den Krippen und Wochenheimen, bis hin zu einer deutlich höheren Sterblichkeitsrate gegenüber den in ihren Familien aufwachsenden Kindern und es ist die Traumatisierung und ihre Entwicklungsrundstände, es sind die Zustände in den Krippen selbst, die permanent überfüllt waren, und es ist die fehlende pädagogische Betreuung der Kinder, die von Kinderkrankenschwestern betreut wurden.

Gelegentlich arteten die Zustände in den Wochenheimen in Katastrophen aus. Da gab es z.B. Todesfälle, die von der Überlastung des Systems und der betreuenden Kinderkrankenschwestern herrühren. Da stirbt ein Kind, weil es sich mit einem Lederriemen, der es fixieren soll, stranguliert. Ein anderes mal hat eine der Schwestern die Kinder mit Psychopharmaka ruhigstellen wollen, aber weil sie eine Überdosis verabreicht, eines der Kinder stirbt. So was mag auch unter besten Bedingungen vorkommen. Erhellender für den Gesamtzustand des Krippensystems sind Briefe von betroffenen Eltern an das Gesundheitsministerium, die ruhig, sachlich aber betroffen, Erfahrungen mit ihren Kindern schildern, die deutlich machen, wie sehr sie unter diesem System und für ihre Kinder gelitten haben. So schreibt Alice Keller 1959:

„….. Ich musste mein Kind gleich nach sechs Wochen in ein Wochenheim geben, damit ich mein Studium beenden konnte. Teils wohnungs-, teils arbeitsbedingt konnte ich mein Kind immer noch nicht drei Jahre lang mit nach Hause nehmen. In der Zwischenzeit wurde ich geschieden und mein Kind ist nun fünfeinhalb Jahre alt. Er kommt im nächsten Jahr in die Schule. In meinem jährlichen Urlaub lernte ich mein Kind immer ein bisschen näher kennen. So stellte ich in diesem Jahr zum Beispiel fest, dass er schlecht und ungepflegt spricht, dass er sehr nervös und laut ist, und dass er einen Hang zum Schwindeln hat. Mir blieb das verborgen, weil ich mein Kind jahrelang immer nur zum Wochenende zu Hause hatte.

Obwohl ich an der Erziehung beim besten Willen um Gottes Willen nichts auszusetzen hatte, nahm ich in diesem Sommer das Kind aus der Wochenkrippe heraus. Er geht jetzt seit einigen Monaten täglich in den Kindergarten und kommt folglich täglich um 17 Uhr nach Haus. Dann beschäftige ich mich mit ihm eine Stunde, wir essen zusammen und ich bringe ihn ins Bett. Jetzt lerne ich ihn erst richtig kennen und versuche, ihn zu lenken und zu erziehen. Ich habe Schwierigkeiten dabei, vieles gelingt mir nicht. Ich muss sagen, dass ich darüber sehr, sehr traurig und manchmal verzweifelt bin, denn auch ich liebe mein Kind natürlich sehr, und möchte aus ihm einen tüchtigen, klugen Menschen machen.

Um zum Kern der Sache zu kommen: Ich halte es für unbedingt richtig, dass man als Frau auch einen Beruf hat und ihn gut ausübt. Aber das darf nie so weit gehen, dass man sein Kind dafür weggeben muss. Ich habe das sehr bereut und würde es auf keinen Fall wieder tun. Die wichtigste Aufgabe ist für eine Frau die Erziehung der Kinder, dahinter muss der berufliche Ehrgeiz zeitweise zurücktreten.“

Dies ist eine sehr sachlich gehaltene, und zurückhaltende Wortmeldung, die heute vielleicht sogar etwas altmodisch klingt, weil sie der Frau die Aufgabe der Kindererziehung zuweist. Doch im Kern benennt sie die Entwicklungsrückstände des eigenen Kindes, die klug beschrieben, ganz eindeutig, seiner Unterbringung in ein Wochenheim angelastet werden. Das Schicksal dieser Frau, beleibe kein Einzelfall wurde in der DDR noch hunderttausende Male durchlebt. Und dabei ist von der Krankheitsanfälligkeit, die in Studien ermittelt und festgehalten, im Gegensatz zu den in den Familien aufwachsenden Kindern um ein mehrfaches höher war, noch gar nicht die Rede. Am schlimmsten schlagen hier die häufigen Dyspepsien, eine gefährliche Stoffwechselkrankheit, die von Koli-Bakterien verursacht wird, und im schlimmsten Fall mit dem Tod endet, zu Buche. Von der Traumatisierung der Kinder, die nach wenigen Wochen in die Babybeaufsichtigungseinrichtungen gebracht werden mussten, ist dabei noch gar nicht gesprochen worden. Dabei ist das kein Thema, das erst in den letzten Jahrzehnten kultiviert wurde. Rosenberg schildert eine Ostberliner Konferenz aus den späten 50er Jahren, die sich mit „Anpassungsstörungen“ der im Krippensystem der DDR untergebrachten Kinder beschäftigt, auf der der schottische Forscher Robertson 1957, die einzelnen Phasen, die ein Kleinkind durchläuft, wenn es von der Mutter getrennt wird, präzise und kenntnisreich beschreibt: Es hat Angst, verzweifelt, protestiert, erkrankt, resigniert und reagiert mit Entwicklungsrückständen, bzw. – rückschlägen, körperlich und geistig.

Das System der Krippen, Tageskrippen, Wochenkrippen und Kinderheime wurde bereits 1949 installiert und konsequent ausgebaut. Seine maximale Ausbaustufe erlangte es erst in den 80er Jahren, wo für über 80 % aller Kinder einen Krippenplatz eingerichtet war. Da die Eltern gerade in den Industriebetrieben im Schichtdienst arbeiteten, wurden Wochenkrippen eingerichtet, in denen die Kinder auch am Wochenende aufbewahrt werden konnten. Und für jene Eltern, deren Beruf nicht einmal das erlaubte, wurden die Kinder im Heimsystem der DDR untergebracht. Jahrzehntelang hielt der Ausbau des Krippensystems mit dem Bedarf nicht mit, so dass es zu Überbelegungen kam. Betreut wurden die Kinder von Kinderkrankenschwestern, die also in erster Linie über eine gesundheitliche Schulung verfügten, weniger oder gar nicht über eine pädagogische. Diese Entscheidung wurde zu Beginn der DDR getroffen und ist nie revidiert worden. Und auch sie zeigt, wie wenig das eigentliche Kindeswohl im Zentrum des Krippensystems gestanden hat.

Immerhin aber hat das Gesundheitsministerium die Entwicklungsrückstände der Babys und Kleinkinder zur Kenntnis genommen, und versucht ihnen mit Hilfe wissenschaftlicher Begleitforschung auf den Grund zu gehen. Das führte dazu, dass mit Hilfe von seriösen und fachkundigen medizinischen Studien es sich selbst attestierte, dass die ganze öffentliche Propaganda der SED über die Vorteile und Notwendigkeit des Heimsystems im krassen Widerspruch zu den Ergebnissen der eigenen Studien stand.

Fast schon dramatisch anmutend manifestiert sich dieser Widerspruch in der beruflichen und wissenschaftlichen Karriere einer Medizinerin in der DDR:

Exkurs: Eva Schmidt-Kolmer Zirkelschlüsse – oder das Primat des Macht- und Wahrheitsanspruchs der SED

Bei der Lektüre von Rosenbergs „Die beschädigte Kindheit – Das Krippensystem der DDR und seine Folgen“ ist mir die Geschichte einer bemerkenswerten Ärztin und Hygienikerin besonders aufgefallen, deren Schicksal stellvertretend für eine ganze soziale Gruppe der DDR steht:

Eva Schmidt - Kolmer, 1913 in Wien geboren, war eine Medizinerin, gleichzeitig Kommunistin und jüdischer Herkunft. Sie ist in Österreich aufgewachsen, hat sich dort politisch links orientiert (in der Sozialdemokratie und im kommunistischen Jugendverband), studierte Medizin, und musste schließlich vor den Nazis fliehen. Nach der Rückkehr aus ihrer Emigration ging sie 1946 nach Ostberlin, wo ihre Approbation anerkannt wurde, die sie in Österreich nicht mehr erhalten hatte.

In der DDR war sie bis zum Schluss leitende Hygienikerin und über Jahrzehnte eine führende Expertin in Sachen Krippensystem und Wochenkrippe. Sie starb 91 in Berlin.

In ihren wissenschaftlichen Studien stellte sie fest, dass das Krippensystem der DDR die hier untergebrachten Kinder traumatisierte, weil der Verlust der Mutter durch nichts zu kompensieren war. Eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit und eklatante Entwicklungsrückstände bei den Kindern waren die Folge. Diese Auseinandersetzungen um das Für und Wider des Krippensystems prägten die 50er Jahre.

Die SED sah das nicht gerne, aber das zuständige Gesundheitsministerium bewilligte Eva Schmidt-Kolmers einschlägige Studien immer wieder. Dennoch hielt die SED an ihrer Linie eines forcierten Ausbaus der Krippensystems trotz der bekannten Studienergebnisse, die die Nachteile der Krippen unter Beweis stellten, aus ideologischen, pädagogischen und politischen Gründen fest. Sie standen im eklatanten Gegensatz zu diesen Studienergebnissen. Schmidt-Kolmer hat dagegen nicht protestiert. Im Gegenteil, sie hat sich und ihre Studienergebnisse sogar selbst verleugnet. Als im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED eine Diskussion um die Qualität der Krippen geführt wurde, war offenbar auch Eva Schmidt-Kolmer gehalten, als offenkundige Expertin und wissenschaftliche Autorität daran teilzunehmen. Und jetzt verteidigte sie das Krippensystem gegen den Vorwurf, dass die Kinder dort Schaden nähmen, und eine Herausreißen aus der Familie schädlich sei. Und sie verteidigte sie mit den gleichen Propaganda-Argumenten, mit der die SED immer die Forcierung des Krippensystems begründet hat.

Danach und davor aber hat sie die Studien betrieben, die klar begründeten, dass und warum die Krippen schädlich für die kleinen Kinder waren.

Als Hilde Benjamin dann Anfang der 60er Jahre als Justizministerin beim Gesundheitsminister gegen diese Studien von Schmidt-Kolmer intervenierte, wurden sie nicht mehr betrieben.

Schmidt-Kolmer hat das hingenommen und nie protestiert. Später hat sie dann sogar die Einbeziehung der Krippen in das Bildungsziel der "entwickelten sozialistischen Persönlichkeit" konzeptionell begleitet. Sie war bis ans Ende der DDR die Expertin auf dem Gebiet der Krippenerziehung in der DDR.

Also, was ist da passiert:

Ich denke, dass für Frau Schmidt-Kolmer Parteiräson vor ihrer eigenen Wissenschaft rangierte. Das heißt, die Unterordnung unter den Macht- und Wahrheitsanspruch der SED war ihr wichtiger als das Festhalten an ihren Studienergebnissen. Gerade in der Zeit, als sie die Studien betrieb, muss ihr klar gewesen sein, dass die Linie der Partei ganze Generationen von Kindern schädigt. Trotzdem hat sie die Linie der Partei verteidigt. Warum macht man das? Ich denke, weil ihr ihr metaphysischer Glaube an die historische Mission der Arbeiterklasse unter Führung der Partei der Arbeiterklasse wichtiger war und grundlegender als die Ergebnisse ihrer Studie. Ich denke, dass sie Kritik an ihrer eigenen Partei nicht artikulieren konnte, weil sie davon überzeugt war, dass es wichtiger ist, den Macht- und Wahrheitsanspruch der SED zu unterstützen, als diesen mit wissenschaftlichen Studien in  Zweifel zu ziehen. Die Richtigkeit des Marxismus-Leninismus, sein historischer Materialismus, der Glauben an den Sozialismus, an das Weltprojekt Sozialismus/Kommunismus, als das war in ihren Augen ein höheres Gut, als ihre wissenschaftlichen Studien, die sie mit ihrem eigenen Verhalten entwertet hat. Sie glaubte an ihren Kommunismus, obwohl dieser Glaube ihre Arbeit, ihre Integrität und ihre wissenschaftliche Autorität entwertete. 

Offenbar war sie zu einer Reflektion dieses Widerspruchs, den sie persönlich auszutragen hatte, nicht in der Lage. Sie konnte ihren eigenen Glauben an die SED nicht hinterfragen. Denn das hätte bedeutet, ihr ganzes Leben in Zweifel zu ziehen. Das kam für sie nicht in Frage. Sie verbot sich offenbar das Nachdenken über die Gründe dieses Widerspruchs zwischen ihrer wissenschaftlichen Arbeit, die sie hochklassig durchführte, und dem Machtanspruch ihrer Partei.

Und wenn man sich das mal klar macht, was das eigentlich heißt, einen Macht- und Wahrheitsanspruch zu akzeptieren, dann wird einem klar, dass die SED die Macht hatte, bei ihren Anhängern zu definieren was richtig und was falsch ist. Das heißt die Propaganda musste geglaubt werden, und sie wurde geglaubt. Wenn die Partei etwas sagte, dann galt das, unabhängig davon, dass man persönlich wusste, dass die Partei die Unwahrheit sagte.

Dieser Glaube gab der Partei die Macht, das was sie für wahr hielt, in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Machtanspruch hieß also, bestimmte Ansichten als geltende öffentliche Wahrheiten zu definieren und die Leute zu zwingen, sich ihnen unterzuordnen. Das taten auch gebildete Menschen, Intellektuelle. Menschen mit Sachverstand, mit Geist, mit Bewusstsein. Es war ihr Glaube an den Sozialismus, der sie zu diesem Verhalten führte.

Wer einmal diesen Glauben angenommen hatte, war in einem geschlossenen Weltbild gefangen, aus dem er offenbar aus eigener Kraft nicht mehr herauskam. Der gab sein Gewissen, sein wissenschaftliches Ethos, seine Fähigkeit zu eigener Urteilskraft an der Pforte zum Eintritt in die Partei ab.

Umgekehrt hätte das Nachdenken über die Hintergründe dieses offenkundigen Widerspruchs zwischen eigenem Wissen und Erfahrung und dem Macht- und Wahrheitsanspruch der SED zu einer Auflösung des Glaubens an den Macht- und Wahrheitsanspruch geführt, und damit den Glauben an den Kommunismus, und den historischen Materialismus aufgelöst. Dann hätte der Einzelne entdecken können, welchen Strukturen er sein Gewissen und sein Ethos opferte.

Ja, der Begriff des Opfers der eigenen Urteilskraft scheint mir hier angemessen zu sein. Und mit dem Opfer der eigenen Urteilskraft opferte man auch seine Individualität, seine Persönlichkeit. Man ging im Kollektiv der Glaubenden auf. Damit erlosch auch die Fähigkeit zur Verantwortung für das, was man als richtig erkannt hatte.

Denn wer im Kleinen entdeckt, das heißt bei sich selbst, wie sehr der Macht- und Wahrheitsanspruch die eigene Urteilskraft beschädigt, und in Frage stellt, und wer also letztlich seine eigene Urteilskraft ausschaltet, der weiß dann auch, dass das ein Allgemeinphänomen der ganzen Gesellschaft ist. Und der kann sich ausrechnen, zu welchen Folgen das führt, nämlich zu einer Schädigung der Gesellschaft, und damit auch zur Niederlage - der eigenen Partei, ja zu einer Niederlage letztlich sogar des Glaubens an den Sozialismus. Das heißt, dieser Widerspruch ist die Widerlegung des Glaubens an die Partei und an den historischen Materialismus.

Dieses Problem hatte nicht nur die Eva Schmidt-Kolmer, das hatten alle Intellektuellen, die an der DDR und der SED wegen ihres Sozialismus festhielten.

Man kann das als ein metaphysisches, als ein ideologisches, als ein religiöses, aber letztlich vor allem als ein geistiges Problem erkennen, mit dem das Problem des Niedergangs der DDR unmittelbar verbunden war.

Das ist die Antwort auf die Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe, warum sich in der SED keine politischen Kraft fand, die sich dem greisen Politbüro unter Honecker in den Weg gestellt hat.

Ihnen fehlte die geistige Kraft, das Problem des Niedergangs der DDR zu durchdringen, weil sie nicht bereit waren, die Prämissen ihres Glaubens an ihren Sozialismus in Frage zu stellen. Sie waren in einer Falle ihres Denkens, ihres Glaubens gefangen. Weil sie an ihren Sozialismus glaubten, konnten sie sich nicht vorstellen, dass er auf einem Irrtum beruhte, nämlich dem Macht- und Wahrheitsanspruch. Weil sie, wenn sie darüber nachdachten, also über ihren Lebenswiderspruch nachdachten,  an die Grenzen des Macht- und Wahrheitsanspruch stießen, den in Frage zu stellen sie sich nicht trauten, konnten sie die Falle, in der sie sich befanden nicht erkennen, nicht sehen, nicht auflösen.

Und das perfide an dem Macht- und Wahrheitsanspruch ist zudem noch gewesen, dass er von jedem, der Macht hatte, angewandt werden konnte. Jeder Minister, nicht nur Honecker, konnte in seinem Bereich anordnen, was als Wahrheit zu gelten hatte. Jeder Funktionär. Jeder Leiter. Und dieses System, wo jeder seinen Machtanspruch in seinem Herrschaftsanspruch durchsetzen konnte, funktionierte nur, wenn er den Machtanspruch des jeweils hierarchie-Höheren nicht in Frage stellte.

Das erklärt übrigens auch, weshalb Honecker den Schürer hat abtreten lassen, als der ihn auf die ruinöse Finanzpolitik des Staates hinwies. Honecker verfügte über den Machtanspruch persönlich, als Generalsekretär. Und er wendete ihn immer da an, wo er sonst nicht weiter wusste. Dass er seinen Laden damit immer weiter in den Abgrund ritt, interessierte ihn weniger. Mit Logik kam Schürer da nicht ran. Der Macht- und Wahrheitsanspruch gab jedem, der über ihn verfügte die Macht, zu definieren, was richtig und falsch ist. Ein  Diskurs aber ist nur da möglich, wo es keinen Macht- und Wahrheitsanspruch gibt. Folglich kann man sich nur korrigieren, wenn man seinen Macht- und Wahrheitsanspruch aufgibt.

Und wer mit einem Macht- und Wahrheitsanspruch regiert, der muss zwangsläufig zur Gewalt greifen, um ihn durchzusetzen. Nur da, wo der Machthaber über Gewalt verfügt, kann er seinen Macht- und Wahrheitsanspruch durchsetzen. Und weil das letztlich Terror bedeutet, widersprachen die betroffenen Opfer nicht, denn sie hatten Angst vor dieser Gewalt.

Aus dem Wahrheitsanspruch folgt der Machtanspruch, und aus dem Machtanspruch folgt die Fähigkeit zu definieren, was Wahrheit ist. Und aus diesem Wahrheitsanspruch folgt wieder der Machtanspruch. Eine unendliche Reihenfolge an Macht- und Wahrheitsansprüchen, ein perfides totalitäres Spiel.

Traurig und dramatisch, was daraus folgte. Ganze Generationen an Intellektuellen im Kommunismus haben da geistig ins Gras gebissen, und nicht wenige auch physisch.

Letztlich hat sich historisch und philosophisch der dialektische Materialismus selbst widerlegt. Aber eine ungeheure Zahl an Opfern hat er erzeugt, ganz zu schweigen von den Kollateralschäden.

Dass ein solches Denksystem nicht überleben kann, liegt auf der Hand. Doch wer hat das gesehen in der DDR.

Eva Schmidt-Kolmer hat es nicht gesehen, auf jeden Fall hat sie sich nicht davon frei machen können.

Erst gegen Ende der DDR taucht echter Widerstand gegen das Krippensystem der DDR auf. Er wird artikuliert von den Kinderärzten, er findet sogar Eingang ins System, aber er findet seinen Erfolg erst mit dem Ende der DDR, das auch das Ende des Krippensystems der DDR bedeutete, auch wenn seine propagandistische Begleitmusik die Zeit der Deutschen Einheit überdauert hat.

Einer der Ärzte, der sich damals gegen das Krippensystem der DDR wandte, war der Potsdamer Arzt Manfred Jäger, wie ich aus der Lektüre des Buches von Rosenheim erfahren konnte. Den Namen kannte ich. Er war Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer und daher mein Kollege in unserer gemeinsamen sozialdemokratischen Fraktion. Das hat mir gefallen. Leider ist Manfred Jäger Jahre später wieder aus der SPD ausgetreten. Ich kann ihn nicht mehr fragen, warum. Das ist schade. Doch solche Verdienste bleiben.

Heute redet niemand mehr davon, dass das Krippensystem der DDR vorbildlich gewesen sei. Generationen von Kindern sind durch dieses System gegangen und nicht wenige dauerhaft traumatisiert worden. Gelegentlich wurden diese Krippen dämonisiert, wenn sie als Erklärung für eine spezifische Form von Kriminalität in Ostdeutschland der 90er und 2010er Jahre herhalten mussten. Viel schlimmer aber ist die Last, mit der die ehemaligen Kinderkrippenkinder, alleingelassen mit ihrer Traumatisierung und ihren Folgen, die ja in der Regel bis weit ins Erwachsenenalter hineinreichen, bis heute fertig werden müssen.

Ihren und ihrer Aufklärung sollte dieses Buch von Rosenheim gewidmet sein.