Demokratisierung und Moderne – 25 Jahre friedliche Revolution 1989

Ringvorlesung TU Chemnitz am 20.5.2014

Rückblick, Bestandsaufnahme, Ausblick. Sie haben mich eingeladen Ihnen Auskunft zu geben über meine Einschätzung der friedlichen Revolution 1989, was daraus wurde, und was weiter ansteht. Darüber wird in diesem Jahr noch viel geredet werde. Dass Sie hier dezidiert meine Meinung dazu erfahren möchten, freut und ehrt mich gleichermaßen, und ich bin Ihnen dankbar dafür.

Ich werde versuchen Ihrem Anliegen gerecht zu werden, durch ein Höchstmaß an Subjektivität. Über die Zeit von 1989 bis heute kann ich gar nicht anders reden, denn als Zeitzeuge. Und ich gehe wohl nicht falsch in der Annahme, dass Sie mich auch als solchen Sie eingeladen haben. Ich stehe dazu, Sie werden mich als solchen bekommen.

Ich will versuchen Sie teilhaben zu lassen an meinen Weg in die und innerhalb der oppositionellen Bewegung in der DDR, meinen Weg in die Sozialdemokratie, und was für mich das gleiche war, für die Demokratisierung der DDR.

Dieser Demokratisierung bin ich treu geblieben bis heute. Sie war mir wichtiger noch als die Deutsche Einheit, deren Voraussetzung sie damals war, und die dennoch nicht zu den 1990 erledigten Aufgaben gehört.

Diese Demokratie ist mir eine Herzensangelegenheit und wird sie wohl auch bleiben. Dass die Bürger der DDR, dass das heutige Ostdeutschland dieser Demokratie teilhaftig wurden, dass sie durch uns den Wiedereintritt in die Moderne schaffen durften, dass rechne ich mir als Mitglied der ehemaligen Oppositionellen Bewegung, der Friedensbewegung in der DDR, wie wir uns damals nannten, als bedeutendsten Beitrag an, den ich für dieses Land leisten durfte, wichtiger als die 19 Jahre Bundestag anschließend, und erst recht als meine Tätigkeit als Parlamentarischer Staatssekretär in der Bundesregierung von 2000 bis 2002, obwohl ich beides gerne und mit großer Leidenschaft gewesen bin.

Das hat mir nicht in der Wiege gelegen. Aber es gab Voraussetzungen dafür, für die ich nichts kann, und die mich geprägt haben, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe, teils angeeignet, teils verworfen.

Ich habe die DDR gehasst. Nicht ihre Bürger, nicht die Menschen, nicht die Bevölkerung, nicht mal die SED-Mitglieder und Parteisekretäre. Ich habe den Staat DDR gehasst, also die Bedingungen, unter denen die Menschen in der DDR leben mussten.

Ich bin nicht zum Hass erzogen worden. Im Gegenteil, als wahrer Protestant hat man seine Feinde zu lieben. Tu das mal, wenn sie Dir alles nehmen, was Du Dir als Jugendlicher für Deine Zukunft erträumst.

Dass ich nicht in den Pionieren war, nicht in der FDJ, nicht jugendgeweiht, das hielt ich für selbstverständlich, dazu bekannte ich mich. Da war ich, wie man heute sagt, bei mir. Dass dieser Staat sich dafür rächen würde, damit rechnete ich. Aber nicht damit, dass mir die zu erwartende und dann auch exekutierte Strafe dieses Staates so schwer werden würde.

Ablehnung vom Abitur, was ist das schon. Macht man eben was anderes. Doch das fand ich nicht. Heute weiß ich, dass ich die wichtigsten Weichen für meine spätere Entwicklung genau in dieser Zeit stellte. Damals aber erschien sie mir nur dunkel und ausweglos zu sein.

Und ich war auch nicht in der Lage meinen Hass gegen diesen Staat in Worte zu fassen. Ich blieb sprachlos und also alleine damit. Doch ich war nicht allein. Das allerdings merkte ich erst als ich meinen Weg in die Opposition der DDR fand.

Ich will Sie hier nicht weiter mit meiner Biographie eines DDR-Jugendlichen, der in einem Pfarrhaus groß geworden ist, behelligen. Doch irgendwie muss ich Ihnen ja meinen Hass auf dieses System verständlich machen, der aus dieser Zeit herrührte. Und über den ich mir wirklich erst ganz klar wurde, als ich bereits im Bundestag saß.

Etwas arbeitete in mir, etwas suchte, stellte Fragen, deren Antwort mir niemand gab, geben konnte, angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit und Resignation gegenüber den politischen Verhältnissen in der DDR, und die ich, seit ich den Begriff das erste Mal gehört hatte, als genauso totalitär wie das nationalsozialistische Hitlerdeutschland empfand.

Heute weiß ich, dass dieses allein sein mit seinen Fragen, ein Kennzeichen der Moderne ist, dass, wer nach neuen Lösungen sucht, weil er mit den alten nicht mehr leben mag, sich ganz bewusst auf den Weg in die Einsamkeit macht, aber genau eben dort, seinen eigenen Weg findend und gehend, auch seine eigene Identität findet. Obwohl die DDR, wie alle kommunistischen Staaten Europas, ja wie alle totalitären Systeme in ihrem Kern einen Versuch darstellten, die Moderne zu verhindern, war es die Moderne selbst, die diesen Systemen den Garaus bereitete.

In meinem Fall kam sie von innen. Sie kam auf den Schwingen der protestantischen Tradition.

Meinen, von der DDR vorenthaltenen politischen Rechten stand das Bewusstsein der Illegitimität ihrer Diktatur und meiner persönlichen, wenn auch durch die Möglichkeiten begrenzten Verantwortung fürs Öffentliche gegenüber. Dazwischen waren Rätsel, die zu lösen waren. Schritt für Schritt machte ich mich auf den Weg ins Öffentliche, jedes Mal gleichsam Neuland betretend, jedes Mal auf Sicht fahrend, jedes Mal meinen ganzen Mut zusammennehmend, dafür aber jedes Mal neue, ermutigende Erfahrungen machend.

Die späten 80-ger Jahre, über die ich hier rede, waren keine Zeit spontaner Einfälle, das wohl auch, für mich aber noch mehr der intellektuellen Durchdringung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse.

Ich will Ihnen jetzt die Namen einiger Leute nennen, stellvertretend für viele andere, die es lohnt, in Erinnerung zu behalten, und von denen ich meine, dass man ihnen irgendwann einmal ein Denkmal setzen sollte.

Da ist die Pastorin Ruth Misselwitz. Sie hielt Ende Januar 1988 eine Predigt, die mich zur Opposition brachte. Im Gegensatz zu vielen anderen, bin ich nämlich erst sehr spät zu ihr gestoßen. Misselwitz hatte die schwierige Aufgabe die Gefühle einer enttäuschten, entmutigten Zuhörerschaft auf den Punkt zu bringen, und gleichzeitig eine neue Perspektive zu weisen. Vorausgegangen war eine große Welle an Solidarität mit den Inhaftierten der Rosa-Luxemburg-Demonstration am 17.Januar 1988, die als Gegendemonstranten der SED einen Spiegel vorgehalten hatten. Dass „Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden“ ist, das wollte sich die SED von diesen Oppositionellen nicht sagen lassen. Schwer beleidigt taten sie diesen Gegendemonstranten um Freya Klier und Stefan Krawczyk den Gefallen, sich die Maske vom Gesicht zu reißen, und deutlich zu machen, dass gerade in der DDR die Freiheit des Andersdenkenden mit Füßen getreten wurde. Doch die SED hatte die Lage falsch eingeschätzt. Die Lunte ging hoch und innerhalb weniger Tage entstand die erste ernstzunehmende Protestbewegung, jeden Tag mehr Kirchen füllend in Berlin und Leipzig. Die SED geriet unter Druck und suchte ein Ventil. Mit Hilfe von vier DDR-Top-Juristen, darunter Gregor Gysi, Manfred Stolpe und Lothar de Maiziere gelang es ihr, die Inhaftierten, die von dieser Protestbewegung nichts erfahren hatte, die Juristen hatten geschwiegen, in den Westen zu bugsieren.

Das nun traf die Protestbewegung an ihrer Achillesferse. Das hatte sie nicht gewollt. Sie wollte die Inhaftierten an ihrer Seite sehen um noch mehr Druck gegen die SED aufzubauen, und nicht im Westen, wo schon so viele andere waren. Statt dessen hatten die sich scheinbar, wie so viele andere bereits vor ihnen mal wieder aus dem Staub gemacht, die Protestierenden und ihre eigenen Ziele menschlicherer Verhältnisse in der DDR im Stich gelassen. Dieser Tag war eine Niederlage für die oppositionelle Friedensbewegung in der DDR.

Das erklärt die langen, traurigen und enttäuschten Gesichter der Zuhörerschaft auf dem Abschlußgottesdienst dieser bis dahin täglichen anwachsenden Fürbittandachten zur Freilassung der Inhaftierten. Ruth Misselwitz sprach unerhörte Worte zu diesen Enttäuschten: „Wieder einmal erleben wir, dass unser Vertrauen in andere Menschen enttäuscht wurde. Wir müssen begreifen,“ sagte sie, „dass Vertrauen in Menschen nicht gerechtfertigt ist. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, dann müssen wir, jeder für sich, das selber tun.“

Dieser Aufruf zur Eigenverantwortung, die harten und unbequeme Erkenntnis, dass Vertrauen in Menschen nicht gerechtfertigt sei, ist natürlich nur vor christlich-protestantischem Hintergrund zu verstehen. Dennoch trafen sie auch einen politischen Nerv. Und auch das hat etwas mit der Moderne zu tun. Wer etwas verändern will, darf nicht auf andere warten, sondern er muss selber handeln. Das war die Botschaft und sie führte dazu, dass die vermeintliche Niederlage zu einem gewaltigen Anwachsen der Opposition führte.

Ich kann mich nicht erinnern, solche klaren Sätze von der Selbstenttäuschung, der vorprogrammierten Enttäuschung des Vertrauens in andere Menschen, und der daraus notwendig folgenden Eigenverantwortung jemals von einer demokratischen Partei heute gehört zu haben. Damals hat die Not einer politischen Krise zu einer ganz anderen Entschlusskraft der Menschen und zu politischer Betätigung geführt, als wir das heute erleben. Ich glaube nicht, dass wir Krisen brauchen, aber es gibt sie, und es kommt darauf an, dass es dann Leute gibt, die sich trauen die notwendige Orientierung zu geben. Diese Orientierung wird nicht in der Stunde der Not geboren, aber sie wird dann vernommen. Und so kann es gelingen, dass die Schar der sich selbst Ermächtigenden wächst.

Ich gründete wenige Zeit später in der Berliner Golgatha-Gemeinde einen eigenen Friedenskreis, meinen ersten. Denn im Pankower Friedenskreis, in der Gemeinde jener Ruth Misselwitz wollte man mich nicht haben. War er überlaufen, wollte man unter sich bleiben, oder war es gar Misstrauen, die Geißel der Opposition? Ich wusste es nicht. Der Golgatha-Friedenskreis jedenfalls wurde zu meiner Schule der Demokratie. Ohne Lehrer, ohne Aufpasser, mit einem sehr toleranten und gegen die politischen Verhältnisse gleichzeitig aufbegehrenden Pfarrer, der gleichzeitig mein Vater war; weshalb ich das Glück hatte, simultan zu meinen politischen Gehversuchen ihm wieder näher zu sein. Die folgenden anderthalb Jahre gingen wir gemeinsam: Jeden Monat ein neues Thema. Jedes Mal die Grenzen erweiternd. Jedes Mal neu Mut gefasst. Jedes Mal eine neue Provokation. Und jedes Mal die erstaunliche Erfahrung, dass der Staat sich nicht mehr wehrte. Hier lernte ich diskutieren, debattieren, Kompromisse schmieden, Reden halten. All das, was in einer Demokratie unverzichtbar ist.

Der zweite Name ist Martin Böttger.

Der sanfte immer ruhige und besonnene Martin Böttger gehörte damals bereits seit nahezu anderthalb Jahrzehnten zur Opposition. Im Gegensatz zu mir hat er dafür mehrere Male im Gefängnis gesessen. Ich kann mich nicht erinnern, ihn ein einziges Mal verzweifelt gesehen zu haben. Er war einer jener Typen, die einem in der DDR den Glauben an die in jedem Menschen vorhandene Würde erhalten halfen. Der nahm mich mit zur Wahlfälschung.

Das war ein ganz besonderes Event.

Martin Böttger fuhr eine 150-ger Java, tschechisches Fabrikat, waschechtes Motorrad. Gemeinsam donnerten wir an diesem herrlichen Sonnensonntag des 7.Mai 1989 die Wahllokale im Karower Stadtteil von Berlin-Weissensee ab. In 80 oder 90 % dieser Wahllokale beobachteten unsere eigenen Leute die Auszählung der Stimmen. Ausreichend genug, um der SED das erste Mal in ihrer Geschichte die von Anfang an von ihr praktizierte Wahlfälschung nachweisen zu können.

Nach diesem Beweis stellten wir Strafanzeige. Auch eine neue Erfahrung für mich. Noch nie hatte ich den Staat so herausgefordert, zumindest kam es mir so vor. Dabei lernte ich das erste Mal Gregor Gysi kennen, der unsere Bitte, uns anwaltlich zu verteidigen aus nicht nachvollziehbaren Gründen ablehnte. Immerhin, Gysi war damals ein Staranwalt, dessen Name auch in oppositionellen Kreisen einen guten Klang hatte. Als er uns aber nebenbei erzählte, dass die DDR vor allem daran kranke, dass ihr eine Verwaltungsgerichtsbarkeit fehlte, war er für mich erledigt. Das war mir entschieden zu wenig.

In der Tat, die Aufdeckung der Wahlfälschung war ein Ereignis. Politik als Spaßaktion mit todernstem Hintergrund.

Und gestatten Sie mir hier eine Bemerkung zu machen. Politik bedarf der Hinterzimmer, der Überlegungen, der Ideen und Konzepte. Aber hier wird sie nicht vermittelt. Dafür braucht es eben der Events. Kreativität ist gefordert. Das ist mehr als Info- oder Stammtische und Pressegespräche. Gefragt sind Kommunikationsformen, die das Herz der Menschen erreichen. Für die Vernunft in der Politik braucht man seinen Kopf, um die Menschen zu erreichen braucht man Hollywood. Nur so kann man heute erfolgreich sein.

Nachdem unsere Wahlfälschungsgruppe die Aktion mit der Strafanzeige abgearbeitet hatte, hörte ich bei unserem letzten Treffen mit einem halben Ohr zu, wie Martin Böttger einem unserer Mitstreiter von einer Zusammenkunft in Grünheide im September erzählte, wo sich Oppositionelle aus der ganzen DDR zu einem eigenen Zusammenschluss treffen wollten, einer neuen oppositionellen Gruppe, die weit über die bisherigen Gruppen hinausragen sollte. Wie manch ein Kundiger unter Ihnen unschwer errät, handelte es sich bei diesem Grünheider Treffen um die Gründung des Neuen Forums. Leider hat er mich nicht eingeladen. Warum, weiß ich nicht. Ich hätte sofort zugesagt.

So komme ich zu dem dritten Namen, den ich hier nennen will. Auch er kam aus einem protestantischen Pfarrhaus, war im Gegensatz zu mir, selber einer geworden, und hatte die Zeit an der kircheneigenen Ausbildungsstätte in Berlin, dem Sprachenkonvikt auch zu umfangreichen philosophischen Studien benutzt, und dabei, wie er es selbst beschreibt, den Schlüssel für die Überwindung der SED-Diktatur gefunden.

Martin Gutzeit ist der geistige Urheber der sozialdemokratischen Partei in der DDR, gemeinsam mit seinem Freund Markus Meckel hat er diese SDP aus der Taufe gehoben. Keine der anderen oppositionellen Gruppierungen hat sich so mit den demokratischen Verhältnissen nach westlichem Vorbild, also faktisch der Verwestlichung der DDR identifiziert, wie diese SDP: Sie hat für mich eine entscheidende Bedeutung für die Demokratisierung der DDR. Das will ich hier nicht weiter ausführen. Es reicht, wenn Sie wissen, welche Bedeutung ich dieser Partei zumesse für die Entwicklung der friedlichen Revolution, der Verhinderung des Dritten Weges und damit auch dem Zustandekommen der Deutschen Einheit zumesse.

Um einige Anmerkungen komme ich aber nicht herum. Denn noch gab es keine friedliche Revolution, als ich den Gründungsaufruf der Sozialdemokraten in die Hand bekam.

Das Ding lag auf dem Schreibtisch meines Vaters. Öffentlich vorgetragen war er einige Tage vorher in unserer Golgatha-Kirche in einem Seminar zum Thema Menschenrechte, das dort anlässlich des 200.Jahrestages der Verkündung der Menschenrechte am 26. August 1989 durchgeführt wurde. Ich hätte dabei sein können auf diesem Menschenrechtsseminar, ich hätte es sogar mit vorbereiten können. Doch für mich wurde dieses reizvolle Angebot von einer zeitgleich anvisierten Reise nach Westberlin getoppt. Ursprünglich hatte ich sogar vor, auf dieser Westreise im Westen zu bleiben, und meine Familie nachzuholen, was ich wegen des Einspruchs meiner Frau nicht tat. So fuhr ich wieder zurück nach Ostberlin, aber der letzte Rest an Illusion oder Hoffnung auf Veränderungen innerhalb des Systems der SED-Herrschaft war von mir gewichen.

Ich war damals 100%-tig anti DDR. Aber ich war auch desillusioniert wegen der in meinen Augen unzulänglichen oppositionellen Konzepte. Ich wollte keine Identifikation mit der DDR, wie Bärbel Bohley, ich wollte keinen verbesserlichen Sozialismus, ich wollte keine Menschenrechte in kommunistischer Interpretation (Stolpe), ich wollte Zukunft für meine Kinder. Und so viel Spaß und Freude mir die oppositionelle Tätigkeit, der ich inzwischen nahezu jeden freien Abend widmete, machte, sah ich hier niemanden mit einen tragfähigen Konzept für eine Zukunft in der DDR, mit dem ich zufrieden gewesen wäre. Ich war im Westen nicht geblieben, weil meine Frau mich gebeten hatte, noch ein Jahr mit diesem Schritt zu warten, um in der DDR mein Fernstudium zum Ingenieur für Informationsverarbeitung abzuschließen. Schließlich sei auch Westdeutschland ein Land, in dem formale Qualifikationsabschlüsse häufig wichtiger sind, als das Können selbst. Dieses Argument hatte was.

Es war eher Zufall, dass ich diesen Gründungsaufruf für die SDP fand. Doch als ich ihn las, fuhr mir ein Schauer über den Rücken. Ich weiß noch wie heute, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, das erste Mal in meinem Leben ein tragfähiges und durchführbares Konzept für politische Veränderungen in der DDR in der Hand zu haben, das sich fast komplett mit meinen eigenen Wünschen und Hoffnungen deckte, Hoffnungen, die ich mich nicht auszusprechen getraut hatte, und die ganz tief versteckt irgendwo im letzten Hinterstübchen meines Herzens vor sich hin dämmerten. Parlamentarische Demokratie, sozialer Rechtsstaat mit ökologischer Ausrichtung, Gewährleistung der Menschenrechte, soziale Marktwirtschaft, freie Wahlen, ja sogar einen Hinweis auf die Wiederherstellung der alten Länder fand ich in diesem Papier; die Entmachtung der SED nicht als Selbstzweck sondern als Voraussetzung für die Revitalisierung der Gesellschaft, was das eigentliche Ziel der Autoren war. Es ging Schlag auf Schlag, jedes Mal wurde ein Tabu berührt, an was die anderen Oppositionellen sich bisher nicht herangetraut hatten. Hier ging jemand aufs Ganze. Hier stellte jemand die Machtfrage in der DDR, forderte die SED in einer Weise heraus, wie ich es noch nie erlebt hatte. In diesem Moment, als ich dieses Papier las, wurde ich zum Sozialdemokraten, und bin es bis heute geblieben.

Die Autoren sprachen davon, die alten sozialdemokratischen Traditionen wieder neu zu beleben, welche auf Grund der Zwangsvereinigung von SED von ihr nur besetzt waren, um sich nicht entfalten zu können, also um sie unschädlich zu machen, was der eigentliche Zweck der Zwangsvereinigung war. Ihnen ging es um eine Demokratie mit westlichem Gesicht, eine Sache, die für die Westeuropäer selbstverständlich war, und die nun nach dem Willen der Sozialdemokraten auch die DDR haben sollte.

Der Opposition in der ehemaligen DDR wird immer wieder unterstellt, sich für einen dritten Weg erwärmt zu haben. Für die Gründer der Sozialdemokratischen Partei trifft dies nicht zu, wer einmal den Gründungsaufruf gelesen hat, wird dafür keine Hinweise finden.

Fakt ist, dass die Opposition in der DDR viel heterogener war, als man das heute wahrhaben will. Die Klammer Bürgerrechtler verdeckt die Unterschiede innerhalb des oppositionellen Spektrums eher. In diesem Begriff steckt keine Erkenntnis sondern ein Verschleierungstatbestand. So kommt es, dass der Opposition als Ganzer bis heute unterstellt wird, für einen dritten Weg eingetreten zu sein, ohne dabei zu berücksichtigen, dass diejenigen der Opposition die das taten nach anfänglichen Erfolgen spätestens bei der ersten freien Volkskammerwahl weit unter 5 % abgeschlagen waren. Doch diese Art von Vorurteilen halten sich hartnäckig obwohl sie historisch nicht belegbar sind, es sei denn man werfe wie bisher, die gesamte Opposition in der DDR in einen Topf. Doch das ist unhistorisch, und man möge mir verzeihen, dass ich hier einmal die Gelegenheit nutze, das so auszusprechen.

Hinzu kommt ein weiteres. Wir hätten doch in der DDR überhaupt keine Chance auf Entmachtung der SED gehabt, wenn wir von einem dritten Weg geträumt hätten. Die SED hätte sich ins Fäustchen gelacht, und uns in der Tasche gehabt. Dieser Traum, den manche der Oppositionellen tatsächlich träumten, war unrealistisch, und wäre von der Wahlbevölkerung niemals geteilt worden.

Denn das ist die nächste Achillesferse eines gewissen Teils des oppositionellen Spektrums in der DDR. Ihre politischen Vorstellungen waren geradezu verstiegen, intellektuell abgehoben, und leicht ideologisch verklärt. Die Menschen vertrauten ihnen, soweit es um die Organisationen der Demonstrationen ging, der Aufklärung des MfS, der Organisation von Mahnwachen, von Runden Tischen, der Organisation von Streiks und ähnlichem. Ihren politischen Zukunftsvorstellungen folgten sie nicht.

Die ostdeutsche Bevölkerung träumte von der deutschen Einheit, so wie ich von der parlamentarischen Demokratie geträumt hatte. Man tut immer so, als sei dieser Wunsch in der Versenkung verschwunden gewesen. Meine Wahrnehmung war das nicht. Seit die sowjetische Besatzungszone existiert hatte, wollten diejenigen, die sich das aussuchen konnten, lieber in eine der drei westlichen als in die östliche davon. Besonders ist das bei allen Vertriebenen zu erkennen, denen sich die Möglichkeit bot, hier wählen zu können. Die zwei Millionen, die in den ersten Jahren entscheiden konnten, waren nicht wenige dieser Vertriebenen. Ihre Einschätzung teilten die übrigen, angestammten Ostdeutschen, damals ja wohl eher Mitteldeutschen. Doch sie hatten ihre Wurzeln hier, ihren Grund und Boden, ihre Betriebe, ihre Arbeit, ihre Familien, Gemeinden und ihre Friedhöfe. Sie mussten abwägen, sie hatten Kosten, wenn sie gingen, das hatten die Vertriebenen nicht.

Die Einschätzung des größten Teils der Ostdeutschen, dass es die Deutschen im Westen besser haben, begleitete die Herrschaft der SED von Anfang an. Niemand machte sich Illusionen über den Stalinismus in der DDR. Ohnehin waren die Bindungskräfte der sozialistischen Diktatur negativer Natur. Der Anpassungsdruck war ungeheuer groß. Er zielte auf das Verhalten der Menschen, auf ihr Denken, und genau hier erfolgten die Anpassungen, mit deren Folgen wir es bis heute zu tun haben. Doch immer wieder brach der Wunsch, frei zu sein, und bspw. lieber in der Bundesrepublik zu leben hervor, sogar bei Leuten, die die SED fest an ihrer Seite wähnte, Funktionären, Sportlern, Lehrern, Betriebsdirektoren. Niemals haben die Ostdeutschen vergessen, dass Westdeutschland ihnen zu jeder Zeit Zuflucht bieten würde. Die Möglichkeit, im Westen mit einem bundesrepublikanischen Pass ausgestattet zu werden, vorbedingungslos, war gewissermaßen immaterieller Besitzstand der DDR-Bürger.

Es war der Kalte Krieg, es war die sowjetische Besetzung, es war der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer, die die Deutsche Einheit verhinderte. Erstaunlich wie sich im Westen die Vorstellung breit machen konnte, dass sich in der DDR eine eigene Identität für diesen Staat entwickelt hätte.

Wann immer die Mauer gefallen wäre, die DDR wäre verwelkt wie eine abgeschnittene Brennnessel. Die Verehrung, die hier westdeutschen Politikern entgegengebracht wurde, wie Willy Brandt in Erfurt, oder Johannes Rau zufällig an einer Tankstelle irgendwo in der DDR-Provinz, und anderen ist es bestimmt ähnlich gegangen, der brauchte sich keine Illusionen über größere Sympathie für den westlichen deutschen Staat als den eigenen sozialistischen zu machen.

Doch diese Stimmung alleine entschied noch nicht über die Zukunft in der DDR. Auch nicht 1989. Aber sie ist der Hintergrund für das schnelle Zustandekommen der Deutschen Einheit 1990.

Mir selbst war diese Stimmung zwar bekannt, und auch nicht unsympathisch, aber in mir selbst spürte ich sie kaum. Vorrangig spürte ich die große Herausforderung, den Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht wieder zu geben, ohne das politische Verbesserungen in der DDR nicht zu machen gewesen waren. Und das bedeutete, dass man die SED von den Schalthebeln der Macht trennen musste.

Im Oktober 89 schickten sich den Menschen, genau das zu tun. Herrliche Tage waren das.

Gleichzeitig war ich über das erste Rufen nach Deutscher Einheit, auch über den tollen Spruch von Willy Brandt am 10.November 89, „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!“ doch etwas erschrocken. Denn wenn die Menschen jetzt schnell unter ein westdeutsches Dach schlüpften, wer betrieb dann die Revolution weiter, wer trennte die SED von ihren Funktionen, wer organisierte die Wahlen, wer sprach Recht, wer bildete die Kinder aus, und behielt die Betriebe?

Ganz abgesehen von den sowjetischen Truppen im Land, zwischen 3 und vierhundert Tausend Soldaten stark, gewaltige Atomwaffenarsenale auf beiden Seiten, europäische Nachbarn, die schlechte Erfahrungen mit Deutschland gemacht hatten. Wer hier einfach dachte, Deutsche Einheit ist die Lösung aller Probleme, musste mindestens naiv sein.

Und das zeigt das Wirken der Opposition in der DDR in einem anderen Licht.

Verantwortungslos gehandelt hat sie wirklich nicht. Herstellen von Öffentlichkeit, Thematisieren der gesellschaftlichen Zustände in Umwelt, Wirtschaft, Bildung und Justiz, das Aufrechterhalten des Anspruchs des Rechts auf politische Mitbestimmung, die Thematisierung der Menschenrechte, waren wichtig und unverzichtbar.

Ein Teil dieser Opposition mag von einem besseren Sozialismus geträumt haben. Spätestens seit 1987, als Honecker die Bundesrepublik besuchte, wo ihm der rote Teppich ausgerollt wurde, kann man ihr das eigentlich nicht mehr vorhalten, ohne zu einseitig zu sein. Ohne diese Opposition hätte es keine Montagsdemonstration in Leipzig gegeben, oder die Demos in Berlin und Plauen. Die Opposition war der Organisator des Volksaufstandes gegen die Herrschaft der SED. Ich fühle mich bis heute diesen ehemaligen DDR-Oppositionellen innerlich mehr verbunden, als vielen Mitgliedern meiner eigenen Partei, erst recht den ganzen alten Blockflöten von CDU, DBD und LDPD zusammen.

Sie bewiesen Mut und Courage. Ohne dies ist keine Demokratie, erst recht kein gesellschaftlicher Fortschritt zu haben. Wer sich nicht an Grenzen reibt, wird sich nicht von ihnen emanzipieren.

Man tut der Komplexität des 1989 beginnenden gesellschaftlichen Wandels unrecht, wenn man versucht ihn auf den Prozess zur Deutschen Einheit zu reduzieren. Die deutsche Einheit brauchte Voraussetzungen. Die wichtigste war die Schaffung einer demokratisch legitimierten, und handlungsfähigen parlamentarischen Versammlung und einer handlungsfähigen demokratischen Regierung. Deutsche Einheit ohne Demokratie in Ostdeutschland konnte und wollte ich mir im November 1989 nicht vorstellen. Also mussten freie Wahlen durchgeführt werden. Also brauchten wir demokratische Parteien. Also musste der Übergang von der SED-Diktatur zu diesen freien Wahlen organisiert werden.

Und dann bedeutete unsere Revolution auch: Austausch der politischen Eliten, Schaffung von demokratischen Institutionen und Demokratisierung der notwendig bleibenden, sowie eine sozial-marktwirtschaftliche Rechtsordnung. Für vieles war die Deutsche Einheit eine große Hilfe. Doch manche ihrer Begleitumstände avancierten auch zu einer großen Belastung der Demokratie in Ostdeutschland.

Da ist zuerst die Instrumentalisierung der Ost-CDU für den Machterhalt der West-CDU insbesondere ihres Kanzlers. Das hätte ich Kohl nicht zugetraut. Er bewies uns sein politisches Geschick mit einem machiavellistischen Zaubertrick der besonders perfiden Art. Er besiegte damit die SPD nicht nur in Ostdeutschland und sicherte sich seine Kanzlerschaft noch mal weitere acht Jahre, sondern setzte einen eigenen dicken Farbklecks auf die im Keimen begriffene Nostalgie. Außerdem beflügelte er in unseren Reihen die Befürworter einer Koalition mit der PDS, allen voran Oskar Lafontaine, auch ein großer Machiavellist, wenn auch nicht so erfolgreich wie Kohl. Wenn ich damals über etwas wütend war, dann diesen politischen Zynismus westlicher Demokraten.

Als nächste große Belastung der jungen Demokratie sollte sich die Deindustrialisierung der ehemaligen DDR erweisen. Das war ein Schock vor allem für die Arbeiter, die in ihrer Mehrheit CDU gewählt hatten. Die meisten von ihnen hatten sich der Illusion hingegeben, jetzt endlich mal einen gerechten Lohn für ihre harte Arbeit zu erhalten, stattdessen hielten sie ihre Entlassungspapiere in der Hand. Auf etwa 10 % reduzierte sich bis 1993 die Belegschaft der ehemaligen DDR-Industriebetriebe, wenn sie nicht gänzlich von der Bildfläche verschwanden. Und ganz gleich, was die Gründe dafür waren, die Enttäuschung stand den Menschen ins Gesicht geschrieben. Viele Regionen haben sich bis heute davon nicht erholt.

Die DDR-Wirtschaft zahlte damals nicht nur einen hohen, letzten Preis für die Planwirtschaft der DDR, sondern sie wurde auch zum Opfer einer allzu harten Wirtschaftspolitik der Chicago-Boys von Milton Friedman und Friedrich von Hayek, die damals im Zenit ihres Einflusses standen, und für eine Säuberung der Wirtschaftspolitik von allen sozialen Elementen standen. Ihre Ideologie der Deregulierung, des Abbaus staatlicher Subventionen hat nicht nur Ostdeutschland schwer getroffen, sondern bewirkte außerdem einen Finanzkollaps in Rußland, hohe Arbeitslosigkeit in Polen, später in der Tschechei, gar nicht zu reden von den Ländern Lateinamerikas, an der Spitze der Pinochet-Diktatur in Chile. Zuletzt führte sie zum Ausbruch der Bankenkrise in den USA, und wurde auch bei uns zu einem Ereignis, für das noch unsere Kindeskinder werden zahlen müssen.

Kurz, die Demokratie brachte für die Ostdeutschen eben nicht den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung, sondern Frustrationen und Stress. Die Moderne zeigte ihre zerstörerischen Seiten. Die Ostdeutschen hatten auf ein Wirtschaftswunder gehofft. Blühende Landschaften waren ihnen versprochen worden. Ich will das Bild nicht weiter bemühen. Die PDS, ehemalige SED hat von dieser Entwicklung am meisten profitiert. Sie konnte sich dauerhaft etablieren. Mein Traum, diese Partei endgültig loszuwerden löste sich ins Nichts auf.

Man könnte jetzt kurz schließen und die Ursachen der in Ostdeutschland deutlich unterentwickelten demokratischen Strukturen auf diese wirtschaftlichen und sozialen Folgen reduzieren. Doch so einfach ist die Sache nicht.

In Ostdeutschland wirken Prägungen nach, die sich die Menschen angeeignet haben, um die DDR zu überstehen, deren Aufarbeitung andauert und schmerzhaft ist. Ich möchte sie als ihre Opfer- und Verdrängungsidentität bezeichnen.

DDR-Bürger pflegten ihren Staat für alle Unbill verantwortlich zu machen, die ihnen im Alltagsleben widerfuhr. Diese Haltung war mir nicht unsympathisch, aber sie war doch etwas einseitig. Denn die Menschen nahmen sich dabei nicht als handlungsfähige Subjekte, sondern als rein Betroffene, als Opfer wahr. Sie dachten über ihren eigenen Gestaltungsspielraum gar nicht nach. Er existierte für sie nicht. Sie existierten im Privaten, ihrer Rückzugsnische von Datsche und Auto. Die politische Enthaltsamkeit heute hat für mich viel mit dieser alten Opferidentität zu tun.

Und die Anpassungen ihres Verhaltens, das die Menschen in der DDR an dieses System glaubten vornehmen zu müssen, geschahen bewusst. Es war ein bewusstes, aktives, selbstverantwortetes Nachgeben auf diesen Anpassungsdruck der SED, das bis heute verdrängt wird. Die Folge ist ein gespaltenes Verhältnis zur Politik.

Diese Prägungen sind schon bei der Volkskammerwahl 1990 zu spüren gewesen.

Noch mal, so sympathisch mir die Westorientierung der DDR-Bürger immer war, sie hatte auch eine autoritätsfixierte Komponente. Die Wahl Helmut Kohls sprach nicht nur für den Wunsch nach schnellen westdeutschen Verhältnissen und westlichem Geld, sondern auch für einen Mangel an Selbstbewusstsein, dem Unterschlüpfen unter überlieferte staatliche Autorität. Das war nicht einfach nur konservativ, das war der Wunsch nach einer Vaterfigur, die es doch bitte richten möge. Und wäre Schmidt damals noch Kanzler gewesen, die Ostdeutschen hätten ihn genauso gewählt, wie sie Kohl gewählt haben. Demokratie ist ein bisschen mehr. Demokratie hat auch etwas mit aufrechtem Gang und Selbstachtung zu tun.

Und trotzdem: ich bin heute ausgesprochen froh über diese deutsche Einheit. Nicht auszudenken, was die Alternative gewesen wäre. Wir Ostdeutsche haben im vereinigten Deutschland viel Anerkennung und Solidarität erfahren, und unser Deutschland heute erfährt viel Anerkennung in der Welt. Die Zeit der innerdeutschen Nabelschau ist Gott sei Dank vorbei. Ich habe nicht das Gefühl, dass die innere Einheit nicht gelungen sei. Wir Deutsche gemeinsam haben die Nachkriegszeit abgeschlossen und Frieden gemacht mit uns selbst. Wir sind heute eine gleichberechtigte europäische Nation von erheblichem Gewicht, auch wenn unsere Kanzlerin gelegentlich Gefahr läuft, dieses Gewicht mit Dominanz zu verwechseln. Stolz macht es mich dennoch.

Das gilt nicht für den Zustand der Demokratie selbst, insbesondere in Ostdeutschland.

Zwar haben die Ostdeutschen 1989 die Kommunisten zum Teufel gejagt, aber sie haben sich damit die Demokratie noch nicht angeeignet. Hier regiert eine vornehme, altmodische Zurückhaltung gegenüber parteilichem Engagement, korrespondiert von einer kleinen, gestressten und überarbeiteten Schar von Parteipolitikern auf allen Ebenen, die nur selten den Eindruck machen, als stünden sie auf der Höhe unserer Zeit.

Gestatten Sie mir, mal ein kleines sarkastisches Zerrbild davon zu zeichnen.

In Sachsen regiert mit Stanislaw Tillich ein ehemaliger Nomenklaturkader der SED als CDU-Ministerpräsident, der gelegentlich von sich reden macht, indem er die AfD mit der NPD gleichsetzt. Das mag man als Schreckschuss an die eigene Partei noch durchgehen lassen, ein Ansatzpunkt politischer Analyse ist das nicht. So lassen sich keine Konzepte gegen den nationalistischen Rückgriff in wilhelminische Zeiten entwickeln.

In Thüringen regiert eine große Koalition unter einer CDU-Ministerpräsidentin, die das große Glück hatte, 1989 als andere schon auf den Barrikaden standen, einen Brief unterzeichnet zu haben, der sie zu einer Reformerin stempelte. Politische Impulse kommen aus diesem Land nicht, zumindest hört man nichts davon. Ihr Juniorpartner SPD glänzt mit Schweigen. Abgesehen von einer Affäre um zu viel gezahlte Dienstbezüge würde man gar nicht mitkriegen, dass die SPD hier auch regiert. Ist vielleicht auch nicht so schlimm, niemand weiß ob die SPD das nächste Mal wieder regiert, wahrscheinlich wird sie von der Linkspartei überrundet, an deren Spitze mit Bodo Ramelow immerhin ein bundesweit bekannter Politiker steht. Einer von jenen Wessis, der der ehemaligen SED half, sich in den Westen Deutschlands auszudehnen.

In Sachsen-Anhalt steht eine graue Maus an der Spitze der Regierung, auch er mit einem sozialdemokratischen Partner, der aber ausgebrannt zu sein scheint. Hören tut man nichts aus diesem Land.

In Mecklenburg-Vorpommern regiert mal ein ehemaliger Wessi, der sich seine Wahlerfolge damit organisiert, in dem er den Unrechtscharackter der verblichenen DDR in Abrede stellt.

Brandenburg hatte kürzlich einen Regierungswechsel. Kein Wunder, dass niemand seinen MP kennt, ich immerhin, aber ich bin politisch gesehen ja auch ein Brandenburger. Das einzige was man von Woidke hörte, ist sein Streit mit Wowereit wegen der Verlängerung eines Nachtflugverbotes eines noch gar nicht Betrieb gegangenen Superflughafens, von dem wahrscheinlich auch in 5 Jahren noch keine Flugzeuge starten.

Und Wowereit hat seinen Zenit hinter sich. Immerhin geht in Berlin die Post ab, Berlin ist sexy, und Berlin ist modern. Aber es hat auch großes Glück gehabt. Die Hauptstadt ist wieder in Berlin. Das war keineswegs selbstverständlich, die Lobbyisten sind inzwischen auch alle gekommen, sie bringen gutes Geld mit, und die Kreativitätswirtschaft boomt. Das gefällt nicht jedem, Gentrifizierung lautet das sozialkritische Stichwort, doch hier pulsiert das pralle Leben. Das kann man wahrlich nicht von allen ostdeutschen Landstrichen sagen.

So kann man die ostdeutsche Demokratie erzählen. Die Fakten stimmen alle. Doch der Ton ist pessimistisch.

Jede Entwicklung hängt mit Emanzipation zusammen. Politische Entwicklungen, gar Aufbrüche gehen immer einher mit dem Aufbrechen überlieferter gesellschaftlicher und mentaler Strukturen. Wer in Ostdeutschland mehr Demokratie will, und mehr Demokraten, der muss an diese überlieferten Strukturen ran. Da bietet sich vieles an.

Die ostdeutschen Betriebe sind häufig Filialen westdeutscher Konzerne. Wer jetzt neue Betriebe haben will, muss ostdeutsche Start Ups fördern. Das ist eine Sache von Werten, von Selbstvertrauen, von Können und Courage. Selbständigkeit ist zu fördern. Innere. Das kann man nicht mit Fördermitteln machen. Freiheit, der Genuss der Freiheit ist zu vermitteln. Hier geht es nicht in erster Linie ums Geld verdienen, sondern ums aktiv sein. Querdenken muss gefördert werden, dass gegen den Strom schwimmen muss gelernt werden. Scheitern ist keine Niederlage, sondern der Beginn eines Neuanfangs. So etwas kann man vorleben, darüber kann politisch kommuniziert werden. Das Unternehmertum muss runter vom Elfenbeinturm des Besonderen, des Elitären und autoritären. Es kann von fast jedem mit Herz und Verstand mit Lust und Phantasie gemeistert werden. Neben der vielen Arbeit, enthält es Glücksmomente, die einem Spaß am Leben machen.

So ist das mit der Politik selbst. Sie ist kein Feld der Qual, sondern der menschlichen Intelligenz, der Kreativität und des Pragmatismus, in dieser Reihenfolge. Politik in der Demokratie ist zuerst Interessenvertretung. Die kann nur leisten, wer sich ganz bewusst der Partikularität der Einzelinteressen annimmt. Kompromisse sind notwendig, aber erst ganz zum Schluss, wenn die Ernte der politischen Kampagne eingefahren wird. Die Themen liegen auf der Straße. Doch die einzelnen Akteure müssen sich ihrer annehmen. Wer auf den jeweiligen MP, Minister oder Bürgermeister wartet, hat schon verloren. Dass er alleine ist, zumindest anfangs gehört zur Natur der Sache.

Der Staat ist ein Dienstleister, keine Autoritätsfigur. Wir brauchen auch keine Beamten mehr. Sie alle sollten sich als gleichberechtigte Bürger in verantwortlicher Position fühlen, wie alle anderen auch. Der Staat muss nicht geschützt werden, er darf kritisiert werden, in allen Punkten und zu aller Zeit. Gezielte Provokationen fördern das öffentliche Gespräch. Erst dieses macht die unterschiedlichen Positionen deutlich, erlaubt ihr Wahrnehmen, vermittelt die Vielschichtigkeit erfahrener Probleme. Außerdem: Wer nichts fordert kriegt nichts. Unsere Demokratie wird durch diese Auseinandersetzungen gestärkt und nicht geschwächt.

Es geht bei der Politik für Ostdeutschland nicht ums Geld, das ist genug vorhanden. Auch der demographische Wandel wird Ostdeutschland nicht strangulieren. Wenn die Fachkräfte fehlen, holen wir sie uns, aus Afrika oder Syrien, oder gar aus Rußland? Was ist daran unsozial? Das Toleranzedikt des großen Kurfürsten von Brandenburg holte die Hugenotten ins Land, die brachten wirtschaftlichen Aufschwung. Frankreich ist nicht daran gestorben. Dass die DDR – Bürger ihr Land verließen, hat der DDR nicht geschadet, sondern ihre Diktatur vor der sie flohen. Noch immer verlassen viele Ostdeutsche Ostdeutschland. Na und ? Was ist schlimm daran? Neues zu erleben und Erfahrungen zu sammeln, fördert den Horizont. Glück mit auf den Weg. Wir laden andere ein zu uns zu kommen, bieten ihnen Entfaltungsmöglichkeiten, die sich woanders nicht finden lassen.

Bevölkerungsaustausch, keine Frage, hat es immer gegeben. Doch alle Kinder lernen sächsisch, wenn sie in Sachsen aufwachsen. In der Uckermark leben heute schon die Hälfte Neubürger. Die Brandenburger Bevölkerung besteht zu 50 % aus zugereisten, ohne dass die Bevölkerungszahl insgesamt gesunken wäre. Den Brandenburger von vor 25 Jahren gibt es heute gar nicht mehr. Gibt es noch den Sachsen, den Anhaltiner per se ?

Die Politik muss Aufbruch wagen, und mit gutem Beispiel voranschreiten. Tabus brechen, Neuland betreten, den Menschen zeigen, dass Leben Spaß macht, dass Politik intelligibel ist und Lösungen machbar.

Dazu gehört auch das Schweigen über unsere Vergangenheit aufzubrechen. Die Regionen lernen sich kennen, wenn sie anfangen ihre Geschichte zu befragen. In Ostdeutschland liegt vieles brach, die nationalsozialistische Geschichte, die sozialistische DDR-Geschichte, auch früher noch die Adels- und Unternehmergeschichte, weil die ja aus Klassenkampfgründen ausgemerzt werden mussten. Alleine die Zwangskollektivierung hat 10000-de Jahrhunderte alte Familien außer Landes getrieben, deren Häuser z.T. noch stehen, z.T. im Verfallen begriffen sind, weggerissen wurden. Jede neu entdeckte alte Geschichte rückt einem den eigenen Ort, die eigene Region einen Schritt wieder näher, lässt einen die Menschen, die hier wohnen besser verstehen. Heimat entsteht nicht durch die NPD, sondern durch die Wiederaneignung ihrer verdrängten, verschütteten Geschichte. Da sind die Lehrer, die Zersetzungsopfer wurden. Da sind Internierungslager, wo der Urgroßvater einsaß. Da sind Flüsse, die die DDR begradigte und zu Kloaken werden ließ. Da sind Tagebaue, die die Dörfer wegbaggerten. Da sind Künstler, die heute in Amerika große Erfolge feiern. Da sind Unternehmer, deren florierende Unternehmen enteignet, und deren Reste von der Treuhand verscherbelt wurden. Überall sind Narben die von geschlagenen Wunden erzählen, über die niemand redet, weil er glaubt, die Schmerzen nicht ertragen zu können. Was ist mit den Vertriebenen, von denen mehr als eine Million in Ostdeutschland blieben? Die wenigsten von ihnen haben das erzählen können, was ihnen passiert ist.

Es leben so viele noch, denen Unrecht widerfuhr. Es ist so leicht, sie einzuladen zu erzählen, in der Schule, der Hochschule, den Ämtern, den Volkshochschulen.

Und überdies ist diese Unrechtsthematik auch ein hoch politisches Thema.

Jetzt soll z.B. die Opferpension aufgebessert werden, von 250 auf 300 € monatlich. Das hört sich erst mal gut an. Doch über der Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten redet niemand. Was ist mit den Zersetzungsopfern, den internierten Frauen in den ehemaligen Ostgebieten, den Opfern der Zwangsaussiedlung? Was ist mit den posttraumatisierten unter den politischen Häftlingen, deren gesundheitlichen Haftfolgeschäden nicht anerkannt werden? Über die Aufarbeitung der Qualen der Kinder und Jugendlichen, die in diesen Jugendwerkhöfen der DDR drangsaliert wurden haben wir gerade erst begonnen zu reden. Das Geld für sie ist viel zu knapp.

Nostalgie hat sich in Ostdeutschland breit gemacht.

Dagegen lässt sich was machen. Z.B. ein Mahnmal für die Opfer des Kommunismus in Deutschland. Das gibt es nämlich bei uns noch nicht. In allen anderen osteuropäischen Hauptstädten sehr wohl, bei uns noch nicht. Warum ist das so ? Es bedarf keiner großen Anstrengung so etwas auch bei uns einzurichten. Einen Ort, wo die Betroffenen trauern können, und wo die Nachgeborenen gedenken können.

Die Kulturpolitiker im Bundestag denken über die Zukunft der Bundesbehörde für die ehemaligen Stasi-Unterlagen der DDR nach. Zukunft heißt hier Abwicklung. Es gibt alle Ernstes Bemühungen die ehemalige Gauck-Behörde in das Bundesarchiv zu überführen. Ja, wie geschichtsvergessen ist das denn ? Schon vergessen, dass es die DDR-Bürger waren, 1989 die Offenlegung der Stasi-Archive erzwangen? Schon vergessen, dass sich die Volkskammer mit einem Kraftakt gegen die Einverleibung ins Bundesarchiv und für das Offenhalten der Stasi-Akten gegen die Bundesregierung durchgesetzt hat ? Nein, diese Stasi-Unterlagen-Behörde ist 1989-90 zu einer lebendigen Gedenkstätte der ostdeutschen Revolution geworden. Wer diese Behörde ins Bundesarchiv eingliedern will, entweiht diese Gedenkstätte. Dagegen müssen wir uns wehren. Der Bundesbeauftragte muss selbständig bleiben.

Gibt es ein Denkmal für die Opfer der Bodenreform und der Zwangskollektivierung ? M.E. nicht. Alleine die Zwangskollektivierung, die in Ostdeutschland den sozialen Stand der Bauern nahezu ausmerzte, hat fast eine Million Menschen in den Westen getrieben. Die Trauer darüber hat sich nicht erledigt. Sie lässt sich nicht länger verdrängen. Wir müssen reden darüber, was unsere Dörfer entleert hat. Und wir müssen reden darüber, wie sie wieder lebenswerter machen können.

Was bleibt von 1989 ? Unter anderem der Kampf um Menschenrechte. Da geht es nicht nur um Putin und die Ukraine. Da geht es auch um Solidarität mit Edward Snowden, der uns allen einen Dienst erwiesen hat, indem er den permanenten Rechtsbruch der Geheimdienste benannt und aufgedeckt hat. Ich bedaure, dass die Bundesregierung sich nicht hat dazu durchringen können, diesem Mann eine Bleiberecht in der Bundesrepublik anzubieten, weil das die angebliche bundesdeutsche Interessenlage verbieten würde.

Menschenrechte sind unteilbar. Wer, wie die USA sich legitimiert sieht, Feinde des eigenen Imperiums mit Drohnen aus der Luft unter Inkaufnahme großer Kollateralschäden ohne Gerichtsverfahren, ohne Anwalt einfach zu vernichten, der schadet dem Gedanken der Unteilbarkeit der Menschenrechte. Und er schadet damit der demokratischen Idee. Wenn wir dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus unsere eigenen Wertegrundlagen opfern, bleibt uns am Ende nicht mehr viel, als unsere wirtschaftliche Stärke. Mit ihr alleine werden wir uns in der Welt von morgen nicht behaupten können.

Wir reden nur selten darüber, dass die Idee der Menschenrechte in Europa geboren wurde, und dass sie geeignet ist, das Zusammenleben der Menschheit in Freiheit und Solidarität zu organisieren, und zwar überall auf der Welt. Und dazu können wir beitragen, indem wir unseren eigenen Werten wie Menschenrechte, Freiheit und Demokratie treu bleiben, und sie leben.